Page 57 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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auf den Menschen erst vergleichsweise spät in seiner zweiten Schrift von 1871
               vollzogen hat. Spät und zudem nur sehr selten ist also bei Darwin selbst von
               (wörtlich) evolve oder evolution die Rede (vgl. dazu den Literaturhinweis auf
               den Wörterbuchartikel von G. Toepfer im Vorigen →Evolution). Auch ist die
               alleinige geistige Urheberschaft Darwins am Grundgedanken der Evolutions-
               theorie umstritten. Mit einigem Recht wird der sogenannte Prioritätsstreit
               mit seinem Kollegen und Bewunderer Alfred Russell Wallace (1823-1913)
               bis heute diskutiert. Viele seiner entscheidenden Anregungen bezog Darwin
               zudem von Vorläufern und Vordenkern, wie z. B. dem Ökonomen Thomas
               Robert Malthus (1766-1834).

                  Die Tatsache, dass heute Darwin als alleiniger Urheber einer der wirk-
               mächtigsten Theorien der modernen Welt gilt, ist selbst das Ergebnis eines sehr
               komplexen Prozesses der Kanonisierung von wissenschaftlichem Tatsachen-
               wissen. Sinnfällig wird dies im vielzitierten Diktum Sigmund Freuds von den
               drei entscheidenden Kränkungen des modernen Menschen, die da lauten:

                 1.  Ablösung des geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild
                     (Kopernikanische Wende);


                 2.  Erschütterung der Vorstellung vom Menschen als eines von Gott
                     geschaffenen Wesens (Darwinsche Evolutionstheorie); sowie

                 3.  Entdeckung des individuellen und kollektiven Un- bzw. Unterbewuss-
                     ten (Freudsche Psychoanalyse).


                  Im Computerzeitalter ist diese Reihe bereits um mehrere Kränkungen
               erweitert worden. So wurde schon mit einigem Recht von der »vierten bis
               siebten Kränkung« im Zeitalter von Internet, neuen Medien oder exotischen
               Diszi plinen wie der »Neurophilosophie« gesprochen. Allerdings signalisieren
               Eponyme wie z. B. ›Darwinismus‹ bereits die Varianz der Begrifflichkeit. So

               unterscheidet man bei der kulturellen Übertragung der (biologischen, natur-
               wissenschaftlichen) Evolutionstheorie auf kulturelle Phänomene in Anlehung
               an die Relativitätstheorie zwischen der allgemeinen und der speziellen Evolu-
               tionstheorie. Der ›allgemeine‹ Theoriebegriff bezeichnet das abstrahierte und
               auch vielfältig modifizierte theoretische Substrat. Diese Verall gemeinerung

               bezieht sich auf ›Evolution‹ als zeitloses Modell sowie als Methode, Para-



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