Page 18 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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16 Einleitung
Gestaltenwandel, der das ideelle Substrat seines messianischen Anliegens wahren
soll. Proteus entzieht sich den Nachfragen des Menelaos, indem er in
verschiedenerlei Tiergestalt flieht (Odyssee IV, 383-386; 389f.; 415-418). Abzusehen
ist diese Metamorphose des Heros bereits im Entstehungsprozeß des Hyperion
1792 bis 1797 in der Gestalt des „Dulders Ulyß“ (KHA II: 170, Z. 22), mit dem
Hölderlin die deutschen „Künstler“ (ebd. Z. 19) vergleicht. Wie der homerische
Held müssen die „Fremdlinge“ (ebd. Z. 21) im eigenen deutschen Haus ihre
„Proteuskünste“ (ebd. Z. 31) beweisen, um gegen die okkupatorischen Freier
bestehen zu können. Mit der „stürmenden Titanenkraft“ (ebd. ZZ. 30f.) der
Ikarusse von einst ist es längst vorbei. Auch der ikarische Sturz des Empedokles in
die Feuerfluten des Ätna (dritte Fassung seit 1799) verlangte nach einer
dialektischen Neukonzeption des Heroischen.
Die Tendenz zur stringenten Mythisierung, auf die Jochen Schmidt ein
dringlich hingewiesen hat, ist Ausdruck dieser „Proteuskunst“: Die „Natur“ wird
zu „Saturn“ und die „Kunst“ zu „Jupiter“ stilisiert. In den „Nachtgesängen“ setzt
sich die proteische Mythisierungstendenz fort: aus dem „freundlichen Feuergeist“
wird „Vulkan“, der Gott des Herdfeuers, aus dem „gefesselten Strom“ der Götter
liebling und „Titanenfreund“ Ganymed.20
Wurde die chiastische Entgegensetzung von Geist- und Tatprinzip in ‘Natur
und Kunst’ noch integriert, kann sie im proteischen Gestaltenwandel auch
Doppelmythen hypostasieren. Der Doppelmythos zerfällt entweder in die
Verkörperungen der Gegensätze, wie im Falle des Zwillingsmythos, oder er
verdichtet die Gegensätze, z. B. im Kentaurenmythos. Aus der Konstellation der
Ode ‘An Eduard’ macht Hölderlin in ‘Die Dioskuren’ die mythischen Zwillinge
Kastor und Pollux; aus der Orpheus- oder Homergestalt in ‘Der blinde Sänger’
geht der weise Kentaur Chiron der gleichnamigen Ode hervor. In seiner
Zwiegestalt verkörpert Chiron das Zugleich der Gegensätze.
So läßt sich die Figurentypologie der ikariscb-herakleiscben Entgegensetzung
vervollständigen: Achill und Herakles verkörpern die positive Seite der proteischen
20 Genau umgekehrt verläuft Hölderlins spätere Entmythisierung, wenn er griechische Wör
ter in der Übersetzung der ‘Antigonae’ verdeutscht. Darauf macht Jochen Schmidt
aufmerksam: Aus „Zeus“ wird „Vater der Erde“ oder „Vater der Zeit“ usw.
(KHA II: 1329f.). Die implizite „Christianisierung“ von sophokleischen Wendungen und
Wörtern („Hölle“ für „Hades“) reflektiert dabei eine messianische Transzendierung des
Tragischen. Das manifestiert sich auch in weiteren Texten der Sophoklesübersetzungen,
wenn Hölderlin im „Erosstandlied“ der ‘Antigonae’ sogar Elemente aus der messianischen
Logosspekulation auf die antike Tragödie überträgt (vgl. dazu Empedokles, KHA II: 417
und Wöhrmann 1967: 127-154). Johann Heinrich Voss erkannte diese Tendenz in seiner
Rezension von Hölderlins Übersetzungen: „In dem Hymnus an Eros [...] läßt Sophokles
den Gott über Land und Meer wandeln; bey Hr. H. [= Hölderlin, R. C.] schwebt der
Geist der Liebe über den Wassern (wobey noch zu bemerken ist, daß Hr. H. auch
anderswo gern biblische Ausdrücke gebraucht [...]).“ 0ALZ Nr. 255 vom 24.10.1804, zit. n.
FHA 16: 24).