Page 201 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die imaginäre Flugreise                  199


                     So sprach ich, da entführte
                     Mich schneller, denn ich vermutet,
                     Und weit, wohin ich nimmer
                     Zu kommen gedacht, ein Genius  mich
                     Vom eigenen Haus’. (‘Patmos’ I, VV. 16-20)

       Hyperion spricht voller Emphase von seinem Wunsch, einmal nach Kleinasien zu
       reisen:  „Auch  denk’  ich  gerne  meiner  Wanderung durch  die  Gegenden  von


       Smyrna.  Es  ist ein herrlich Land,  und ich  habe tausendmal  mir Flügel gewünscht,
       um  des Jahres  Einmal  nach  Kleinasien  zu  fliegen.“  (KHA II: 28,  ZZ. 5-8).  Dabei
       verknüpft Hölderlin die Metaphorik des Gehens und Fliegens in ähnlicher Weise,
       wie ich es für den „Flugraub“ in ‘Patmos’ geltend mache. Denn auch die Verse aus
       ‘Patmos’  I  sprechen  lediglich  in  Verben  der Fortbewegung  („da  ich ging“, V. 21;

       „An zugangbaren Wänden“, V. 41).
           In  ‘Der  Einzige’  signalisieren  die  Verben  der  sinnlichen  Wahrnehmung  das
       Imaginäre  des  Reisewunsches  (‘Der  Einzige’  I,  VV.  18;  20;  23  [Fortbewegung];
       VV.  18;  24;  35  [sinnliche  Wahrnehmung]). Jochen  Schmidt  macht  in  diesem  Zu­
       sammenhang auf das Motiv der imaginären Reise bei Pindar aufmerksam,  freilich
       ohne auf die  messianischen  Implikationen  einzugehen  (KHA I: 972; Jürgen  Link
       bestätigt das Flugbild aus seiner Sicht, vgl. Link  1997: 43). Die imaginäre Flugreise
       ist ein mythisches Motiv, das in den Vorstellungen der Völker und Religionen den
       Rang  einer  anthropologischen  Konstante  besitzt.  Der  „magische  Flug“  versinn­
       licht schamanische Ekstasen,  da die Trennupg von Körper und Geist  halluziniert
       wird.187
           Auch Hölderlin ist es in  seiner Form der imaginierten Flugreise um eine sol­

       che  ekstasis zu  tun:  der  hesperische  Dichter  verläßt  das  Gehäuse  seiner
       hesperischen Bedingtheit und die Schwere seines deutschen Schicksals,  um  geistig
       in  seine  griechische  Wunsch-  und Ideallandschaft  zu  entschweben.  Daß  die  ioni­
       sche Landschaft dem lyrischen Ich vor dem inneren Auge gleichsam emporwächst
       und  entgegenblüht,  verdeutlicht  die  organische  Metaphorik,  die  nur  zum  Teil
       durch die Flora „Asias“  motiviert ist (vgl.  kursive Hervorhebungen). Die vegetati­
       ven  Verben  stehen  für  das  Visionäre,  den  „Gedankenflug“  des  lyrischen  Ich  in
       Analogie  zu  Chirons  „Gestalten /  Aus  frischer  Erd’  und  Wolken  der  Liebe“
       (‘Chiron’, VV. 20f.):
                     [...] Es dämmerten                         20
                     Im Zwielicht, da ich ging



        187  „Sehr viel häufiger wurde die Seele, die den Körper verläßt, als Vogel beschrieben. Der See­
           lenvogel  gehört  geradezu  zu  den  religiösen  Standardvorstellungen.  Dafür  reicht  das
           Anschauungsmaterial von prähistorischen Höhlenmalereien über die mythologischen Vo­
           gelabbildungen  auf  Lebens-  oder  Weltenbäumen  bis  hin  zur  Taube,  die  selbst  in  der
           Vorstellung des Christentums noch dem Mund des Toten entfliegt oder die eine Seite  des
           dreieinigen  Gottes,  den  ‘Heiligen  Geist’  symbolisiert.  Die  Reise  der  Seele,  ob  als  Vogel
           oder in anderer Form, ist eine weltweit verbreitete Vorstellung.“ (Behringer u. a.  1991: 42)
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