Page 203 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die imaginäre Flugreise                 201


       Häufigkeit  der  Goldmetapher189  im  lyrischen  Bild  von  Ionien  projiziert  die

       Vorstellung vom goldenen Zeitalter in  die physisch-räumliche  Struktur  der Land­
       schaft. Die  „tausend Gipfel“  erscheinen wie die tausend Jahre  Zeit zwischen  zwei
       Zeitgipfeln oder idealen Epochen,  da sich göttliche Harmonie auf Erden verwirk­
       licht. Diese chiliastischen Zeitspekulationen (von griech. yi/Uot  für „tausend“)  hat
       Hölderlin  aus  dem  Umfeld  des  spekulativen  Pietismus  Württembergs  rezipiert
       und sich freizügig für seine messianische Mythengeographie anverwandelt.190
           Allerdings  sind  die  griechischen  Göttergebirge  längst  verwaist,  die  heiligen
       Gipfel  des Peleponnes,  wie  z. B.  der Olympos,  werden  in  ‘Patmos’  gar  nicht  er­
       wähnt.  Hölderlins  Interesse  gilt  vielmehr  der  geographischen  Zone  zwischen
       Orient und Okzident  (Ionien und östliche Ägäis zwischen Asien und Hesperien).
       Für diese „Zwischengestalt“  der kleinasiatischen Landschaft spricht auch die Beto­
       nung des „Zwielichts“  (V. 21),  das  den Dichter  nach seiner Flugreise  nach  Ionien
       umgibt.  Hesperien,  das  der  Dichter  hinter  sich  läßt,  ist  in  geschichtlich  dunkler
       Zeit  noch  kein  Horeb  vergönnt,  von  dem  eine  Mosesgestalt  den  Deutschen  eine
       göttliche Offenbarung zuteil werden ließe. Zwischen diesem topographisch veran­


       schaulichten  Nichtmehr des  griechischen  Göttertages  und  dem  Nochnicht in  der
       hesperischen  „Nacht“  sucht  Hölderlin  nach  einem  Zeichen  eschatologischer
       Hoffnung.191  Er findet es modelliert in den mythomessianischen Formationen der
        ionischen Insellandschaft.




         189  ‘Patmos’  I,  V. 27  „im  goldenen  Rauche“  und  V. 35  „Der  goldgeschmückte  Paktol“.  Man
           beachte  die  Eisenmetaphorik  im  Zusammenhang  mit  den  Jüngern.  Ihnen  ist  der  heilige
           Geist  eingeprägt  wie  Eisen  die Signatur des Feuers trägt  (V. 98).  Der Abfolge  der antiken
           Weltzeitalterlehre  zufolge  kontrastiert  die  „eherne“  Fahlheit  und  Schwäche  der  von
           Christus  zurückgelassenen  hesperischen  Menschen  mit  der  „goldenen“  Herrlichkeit
           Ioniens.
         190 Den Gedanken eines tausendjährigen messianischen „Zwischenreiches“, das mit dem Ende
            der  Menschheitsgeschichte  beginnt  und  bis  zum  Einbruch  des  eigentlichen Jüngsten  Ge­
            richts  dauert,  hat  Johann  Albrecht  Bengel  in  seinem  Kommentar  zur  Offenbarung
           Johannis  ausgeführt  (vgl.  Bengel  1975:  50f.  [Kommentar  zu  Offb  10,  6]  und  114f.
            [Kommentar  zu  Offb  20,  1-15].  Bengel  errechnete  den  Beginn  dieser  1000  Jahre  des
            „Zwischenreichs“  für  das  Jahr  1836  (!).  Dann  sollte  die  ebenfalls  tausendjährige
            „Gefangenschaft  des Satans“  enden und das  messianische  Reich  anbrechen.  Darauf sollten
            die apokalyptischen Endkämpfe zwischen „Gog und Magog“  folgen. Erst  in einem vierten
            Schritt tagt dann das Jüngste Gericht. Die Spekulationen Bengels seien hier stellvertretend
            für den württembergischen Pietismus des 18. Jahrhunderts angeführt.
               Die  pietistische Affinität zur „güldenen  Zeit“  als  hat  die Forschung bereits  genügend
            erhellt, so  z. B. durch  die Interpretation der gleichnamigen Schrift Die güldene Zeit  (1759)
            des Bengelschülers Friedrich Christoph Oetingers  (vgl. dazu Schmidt  1990:  101f.; Dierauer
            1986; Schäfer in Lawitschka 1989/90/91 und Schäfer  1994).
         191  Zum  Bild  des  Gegensatzes  von  hesperischer  „Nacht“  und  griechischem  „Tag“:  ‘Der
            Einzige’ I,  VV. 25-35;  ‘Brot  und  Wein’,  VV. 125-130 und  ‘Patmos’  I, V.  108  (bei  Schmidt
            KH AI: 985 und 1003 zu ‘Patmos’ I, V. 220).
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