Page 205 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die imaginäre Flugreise                  203


       Hieronymus  Bosch  (entstanden  zwischen  1490  und  1500)  führt  diese  Adlertypo­
       logie  des  Johannes  eindringlich  vor  Augen  (siehe  Abbildung  Nr.  4).  Daß  das
       Adlerbild  auch  für  die  alttestamentliche  Ruach  stehen  kann,  der  Adler  des
       Johannes  also  vom  göttlichen  Schöpfergeist  präfiguriert  wird,  der  über  den
       Wassern  wie  ein  Adler  über  seinen Jungen  schwebt  (5 Mo 32,  11),  ist  bereits  ge­
       zeigt worden (siehe Kapitel II. 1).
           Ähnlich wie in ‘Patmos’  ist die imaginäre Flugreise auch in ‘Der Einzige’  an­
       gelegt.  Allerdings  ist der Flugtopos nicht unmittelbar durch ikarische  Metaphorik
       und Semantik sinnfällig.  Vor allem die Verben der sinnlichen Wahrnehmung und
       Äußerung,  wie  „gehöret“,  „gesehn“,  „gesungen“,  aber auch  die  Verben der Bewe­
       gung wie „gestanden“ und „gegangen“ fingieren in ihrer Partizipform die Kenntnis
       der  „alten seligen  Küsten“  (‘Der Einzige’  I,  V. 2)  aus vermeintlicher Anschauung
       vor Ort. Die 2.  und 3.  Strophe der  1. Triade dort sind aber reiner Phantasie- und
       Gedankenflug.  Der  Blick,  das  Erleben,  das  Betreten  der  idealen  ionischen  Land­
       schaft ist vollständig imaginiert und ebenso Produkt der Einbildungskraft wie die
       geheimnisvolle Entführung durch den Adler.193
           Die  allegorischen  Implikationen  des  Adlers  verleihen  der  Vater-Sohn-Rela-
       tion  noch  eine  besondere  politische  Dimension:  im  Gegensatz  zu  den
       himmelsstürmerischen und vatermörderischen Losungen der Französischen Revo­
       lution  setzt  die  Adlersymbolik  in  den  späten  Gedichten  die  Vaterinstanz  wieder
       in  ihr  Recht.  Das  schlägt  sich  in  einer  Fülle  von  affirmativen  Gestaltungen  von
       Fürsten  und Herrschern nieder und äußert sich in den Widmungen von  ‘Patmos’
       an  den  Landgrafen  und  der  Trauerspiele  des  Sophokles  (1804)  an  die  Prinzessin
       Auguste von Hessen-Homburg (vgl. auch ‘Der Einzige’ II, VV.  84-87).

















        193  „Gehöret hab’  ich /  Von Elis und Olympia, bin /  Gestanden oben auf dem Parnaß, /  Und
           über Bergen  des  Isthmus,  /   Und  drüben  auch  Smyrna  und  hinab  /   Bei  Ephesos  bin  ich
                  /
           gegangen-, /  Viel hab’ ich schönes gesehn,  Und gesungen  Gottes Bild, /  Hab’ ich, das lebet
                                         /
           unter /  Den  Menschen,  aber dennoch /  Ihr  alten  Götter und all /   Ihr tapfern  Söhne  der
           Götter  /   Noch  Einen  such  ich,  den  /   Ich  liebe  unter  euch,  /  Wo  ihr  den  letzten  eures
           Geschlechts /  Des Hauses Kleinod mir /  Dem fremden Gaste verberget.“  (‘Der Einzige’  I,
           VV.  18-35)  Das  Gedicht  schildert  die  imaginäre  Reise  lediglich  in  Verben  der  Fortbewe­
           gung, vor allem des  „Gehens“  (vgl.  auch  der  „Gang des Andenkens“  bei Jochen  Schmidt,
           KHAI:  1018f.).
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