Page 204 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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202 IV. K apitel: Ikarus, C hristus un d Johannes
Denn die Inseln der östlichen Ägäis sind noch gleichsam Überbleibsel einst
erhabener „Gipfel der Zeit“ (‘Patmos’ I, V. 10), die aus dem geschichtlichen Wel
lental aufragen. Hier sind es die mosaischen und messianischen Verkünder, die in
den ,,Grotte[n]“ (ebd. V. 56) einsamer Inseln in proteischer Selbstverwandlung die
Erinnerung an ein kommendes Himmelreich aufrecht erhalten und an das Volk
weitergeben, z. B. durch Deutungskunst, Buchstabenpflege und Erziehung
(Johannes, Chiron, Hyperion).192 Dunkel werden diese Proteusgestalten als
„Männer“ im Gegensatz zu den „Jünglingen“ bezeichnet, die bisher für eine neue
Welt gerungen haben (z. B. die „kühnen Jünglinge“ aus der ‘Hymne an die
Menschheit’ oder die „Musenjünglinge“ aus dem Hyperion). Die Kontur dieser
Gruppe oszilliert dabei zwischen erzieherischer („Gelehrt[en]“, V. 95) und pro
phetischer Funktion („und voll mit Locken“, V. 89). In der Nachfolge dieser
Proteusgestalten sieht sich der Dichter, wie die folgenden Verse aus ‘Der
Einzige’ II kryptisch andeuten:
Jetzt erst recht kommen, das sind väterliche Fürsten. Denn
viel ist der Stand 85
Gottgleicher, denn sonst. Denn Männern mehr
Gehöret das Licht. Nicht Jünglingen.
Das Vaterland auch. Nämlich frisch
Noch unerschöpfet und voll mit Locken.
Der Vater der Erde freuet nämlich sich des 90
Auch, daß Kinder sind, so bleibet eine Gewißheit
Des Guten. So auch freuet
Das ihn, daß eines bleibet.
Auch einige sind, gerettet, als
Auf schönen Inseln. Gelehrt sind die. 95
Hölderlin verfolgt die Doppeltypologie konsequent nach antikem und biblischem
Muster: Der Adler ist einmal der Botenvogel des Mythos, zum anderen Symbol des
Johanneischen Logos, von dem die Ich-Instanz des Gedichts ergriffen ist und in
dessen Nachfolge der. Dichter sich fühlt. Das Bild „Johannes auf Patmos“ von
192 Im Hyperion prägen die Grotten die kleinasiatische Landschaft (vgl. den Abschied des Aias
von seiner Heimat nach Sophokles in der „vorletzten Fassung“ des Romans, KHA II: 260,
ZZ. 16-23). Homers Grotte ist für Hyperion und Melite im „Fragment von Hyperion“, ge
radezu ein Wallfahnsort (KHA II: 27, Z. 3[3] - 28, Z. 1; 191, Z. 10; 192, Z. 17-196, Z. 12).
Das Motiv der Grotte läßt eine zwanglose Verbindung zur Chirongestalt zu, von dem
überliefert ist, daß er in einer thessalischen Höhle wohnte. Vergegenwärtigt man sich das
Szenario der Chiron-Ode, so sucht Apoll den Kentauren wohl in seiner Waldgrotte auf,
um ihn in Liebesdingen um Rat zu fragen (vgl. neunte Pythie Pindars und KHA I: 801,
Kommentar z. St. 314, 10). Neben der Höhlenbehausung Chirons hat Hölderlin auch die
Apollepisode durch seine Pindar-Übertragungen rezipiert (vgl. dritte Pythie, KHA II: 728,
VV. 109-119; vierte Pythie, KHA II: 736, VV. 179-192; neunte Pythie, KHA II: 752,
VV. 45-59).