Page 200 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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198 IV. K apitel: Ikarus, C hristus und Johannes
also verkörpert, und nicht etwa das Plastisch-Positive bloß vergeistigt, wie die For
schung einseitig behauptet.
Auf einer weiteren Stufe werden diese Gestalten des Geistes zu organologi-
schen Strukturen metamorphotisiert: in der Doldenmetaphorik von Efeu,
Lorbeer, Wein oder der Dreierstruktur von Kleeblatt und Lilie. Auch Zwischen
formen zwischen unbelebter und belebter Welt, zwischen Pflanze und Tier,
zwischen Tier und Mensch, berücksichtigt Hölderlin: die „Röhren von Holz“
(‘Vom Abgrund nämlich’ V. 24) als Chiffre für die Panflöte, oder das Bild der Or
gel aus ‘Am Quell der Donau’ (VV. 25-35) symbolisieren diesen typologischen
Gradualisms auf der Ebene der unbelebten Dingwelt. Bilder wie „Korall“ (‘Vom
Abgrund nämlich’, V. 23) markieren die Mischformen zwischen toter und beseel
ter Materie. Die Korallen sind gleichsam Mischwesen aus Pflanze und Kalk. Die
Kentauren wiederum markieren den Übergang von der Tier- zur Menschenwelt.
2.2 Die imaginäre Flugreise im Zeichen des Adlers
Hölderlin betont in ‘Patmos’ I, VV. 77-80, daß Jesus für Johannes, seinen jüngsten
Gefolgsmann, eine Art Vater war 0h 21). Das verlängert die Vater-Sohn-Relation
im Rahmen der Hymne in die irdische Wirklichkeit des hesperischen Dichters.
Wenn der Adler, das Wappentier des Evangelisten Johannes, zu Anfang des Ge
dichts das lyrische Ich ergreift und auf eine imaginäre Flugreise in die Ägäis
entführt, dann vertritt das Symboltier des Johannes wiederum eine Vaterinstanz
für das lyrische Ich: Johannes, der Evangelist und Apokalyptiker, ist der Vater
oder christliche Urahn des Dichters als Seher und Künder.186 Der mythische Sub
text der Adlerentführung verstärkt diese Vater-Sohn-Implikation: Wie Zeus in
Gestalt eines Adlers den Ganymed in den Olymp entführt, so nimmt
Gott/Christus das lyrische Ich in Gestalt des Johannesadlers in seine Fänge, um
das alter ego des Dichters auf der heiligen Insel Schicksal und Sendung des
Johannes nacherleben zu lassen: „da entführte/ [...] ein Genius mich / Vom
eigenen Haus.“ (‘Patmos’ I, VV. 16ff.)
Die Imagination einer Flugreise von Hesperien nach Patmos gestattet es wei
terhin, die ganymedischen Selbstzuschreibungen des lyrischen Ich (als Erinnerung
an die ikarischen Wünsche von einst) in der Adlergestalt zu hypostasieren. Hier
kommt es nicht, wie in der Ode ‘Rousseau’, zu einer Identität zwischen
ikarischem Geistmenschen und Adler, sondern nur zu einer innigen Begegnung.
Der Adler ist eine Einbildung des lyrischen Ich:
186 Zur Nähe des Adlers zum Motiv des „Vaters“ und „Urahns“ vgl. ‘Der Adler’, VV. Iff. und
‘Wenn aber die Himmlischen...’, W . 60ff. Auch in ‘Die Titanen’ ist der Adler als „Vogel
des Himmels“ der himmlischen Vaterinstanz zugeordnet (ebd. VV. 8 lf.).