Page 196 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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194             IV. K apitel: Ikarus,  C hristus und Joh an n es


           eine Reihe mit Seefahrern, Entdeckern und letztlich den Dichtern.  „Wünscht’  ich
           der Helden einer zu sein /  Und dürfte frei es bekennen /  So war’ es ein Seeheld“,
           beginnt  Hölderlin  seinen  Entwuf  über  den  Entdecker  Amerikas  (‘Kolomb’,
           VV.  1-3).  Neben  die Wunschexistenz  als Johannes,  der  im  einsamen Inselexil  das
           Kommen  des  Gottesreichs verkündet,  stellt  Hölderlin  die  Sehnsucht  nach  einem
           heroischen Schicksal als Seeheld und Entdecker.
               Aber er  bezieht  sich  in  dieser  historisierenden  Ahnensuche  nicht  etwa  (wie
           an  anderer  Stelle)  auf einen  Mythos  wie Jason  aus  der  Argonautensage.  Bewußt
           tauscht  er  die  Reihe  der  mythischen  Helden  durch  historische  Vorbilder  wie
           Kreuzfahrer,  Krieger,  Entdecker  und  Fürsten  aus.  Als  geschichtlich  beglaubigte
           „Heraklesse“  der  hesperischen  Geschichte  verkörpern  sie  die  tätige  Seite  von
           Hölderlins  spätem  Dichterbild.  Die  ikarisch  dichterischen  Facetten  der
           Johannesgestalt  werden  damit  herakleisch komplementiert.  Die  Nähe  der  See­

           fahrer,  Fürsten  und  Könige  zum  Apokalyptiker  auf  Patmos  vervollständigt  das
           Bild vom proteischen Wunschbild des Dichters. Dem  „Deuter“ der heiligen Schrif­


           ten und Offenbarungen, dem Apokalyptiker als Enthüller, korrespondieren so die
           Erfüller  der Geschichte.  Die  Propheten  bedürfen  der  messianischen  Heroen.  Die
           großen  „Entdecker“  sind  auch  „Enthüller“  des Neuen  und Fremden.  Was sie  für
           das  „Ende  der  Welt“  im  Raum  bedeuten,  bewirken  die  Apokalyptiker  für  das
           „Ende  der  Welt“  in  der  Zeit,  nämlich  Wegbereitung  und  Deutung.  Auch
           Kolumbus  oder  Bougainville  sind  in  diesem  Sinne  Helden  der  „Enthüllung“,
           apokalypsis , wenn Hölderlin skizzenartig in den ersten Entwurf von ‘Kolomb’ ein­
           fügt:
                         Schönheit apokalyptica.

           Damit  sind  auf  dieser  Stufe  der  messianischen  Mythogenese  ikarische  und
           herakleische   Facetten   als  Synthese  auch   historisiert   und  naturalisiert:
           Weltgeschichte wird zur  messianisch-mythischen  Naturgeschichte,  die  Eschatolo­


                  Zueinander in Beziehung gesetzt, beschreiben die beiden Gedichte die entgegengesetz­
               ten  Stoßrichtungen  der  abendländischen  Kulturentwicklung:  im  Falle  der  „Entdecker“
               nach Westen in die Neue Welt; im Falle der „Kreuzfahrer“ nach Osten zum Nabel der Al­
               ten  Welt  (Jerusalem).  In  beiden  Gedichten  ist  die  Harmonie  von  Geistentwurf und  Mut
               zur  Tat  zentral.  Das  Gedicht  über die Johanniter  (Malteser)  verschiebt  den  Bereich  des
               Geistigen in Richtung auf Werte wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe, denn die Johanni­
               ter  waren  die  ersten,  die  in  ihren Hospitälern  im Gelobten Land  für die Versorgung  der
               Armen, Kranken und Verletzten sorgten. Ganz gezielt stellt Schiller dieses Christlich-Ethi­
               sche  in  ‘Die  Ritter [...]’  („Schürze  des  Wärters“,  V. 5  - gemeint  ist  die  Hospitalkleidung)
               dem Ritterlich-Ungestümen der Ordensleute gegenüber („Löwen der Schlacht“, V. 6). Der
               Ahnherr  der  Johanniter,  der  Heilige  Johannes,  schafft  eine  passende  Verbindung  zu
               ‘Patmos’ und zum Nachtrag des ‘Kolomb’-Fragments, obwohl Hölderlin dort nur von den
               „Tempelherren“ spricht (vgl. KH AI; 1008).
                  Das führt  zu einer neuen Unterscheidung zwischen dem Johanneischen“  (dem genial
               Geistigen) und dem .Johannitischen“ (dem ideal Ethischen).
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