Page 197 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Typologie der Johannesgestalt             195

       gie organisch motiviert.  Mit der Namensliste des Fragments Nr. 48  „Mahomed f,
       Rinald [...]“  aus  der Einleitung dieser Arbeit  schließt  sich  der Kreis.  Die  Ahnen­
       reihe  der  proteischen  Helden  ist  der  Entwurf  einer  künstlich  geschaffenen
       hesperischen  Genealogie,  die  mythische  Heroenbilder  und  diesseitige  Messias­
       gestalten mit historischen Fürsten identifiziert, eine Art „Kyruslied“ im deutschen
       Geist.  Inwieweit  eine  solche  politische  Übertragung  messianischer  Genealogie
       auch  Audruck  eines  historisierenden  Zeitgeistes  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.
       Jahrhunderts war,  dokumentiert  Herders  Übersetzung  des  Kyrusliedes  bei Jesaja
       (‘Gesang an den Cyrus’,  1762,  nach Js 44, 24ff.;  45).  Herder stimmt  zumindest  in
       der historisierenden Tendenz mit der rationalen Theologie seiner Zeit überein. Er
       huldigt  damit  Zar  Peter  III.  (1728-1762),  dem  Sohn  von  Peter I.  (genannt  „der
       Große“), als dem „Gesalbten“ und Befreier Preußens im Siebenjährigen Krieg.184
           Die Jerusalem-Passage aus ‘Patmos’  („Die Tempelherren die gefahren /  Nach
       Jerusalem“,  KHA  I:  1008)  gibt  aber  noch  einer  weiteren  Assoziation  Raum,  die
       direkt auf die dolden- und kleeblattförmige Darstellung synkretistischer Genealo­
       gien  führt:  die  Darstellung  der  Stadt  Jerusalem  als  dreiblättriges  Kleeblatt.  Zur
       Illustration dient die Darstellung „Die gantze Welt in ein Kleberblat [...]“ aus dem
       Buch  Itinerarium  Sacrae  Scripturae  (1585)  von  Henricus  Bünting  (Abbildung
       Nr. 3):




















         184  Herder  1968  [1762]:  XXXIX,  3.  Strophe,  W . 1-4:  „Du  bist!  Gesalbter,  den  uns  Gott
           versprach! /  Es glänzt Dein neues Reich /  Den Himmel auf. Die Völker feiren [sic] nach /
           Und knien.  Der Mond erhebt  es bleich.  /  [...]“  (Hervorhebungen  original).  Im Fragment
           Nr.  48  („So Mahomed t,  Rinald...,  KHA I: 438,  VV.  llf.)  erwähnt  Hölderlin  „Peter de[n]
           Große[n]“  (V. 7).  Allerdings  meint  er an  dieser  Stelle  wahrscheinlich  den  Schwiegersohn
           des  Staufers  Manfred  und  Sohn Jakobs  I.  Dieser  „Peter  der  Große“  (um  1238/43-1285)
           eroberte  Sizilien  im  Kampf  gegen  den  Spanier  Karl  I.  von  Anjou.  Das  Ereignis  wurde
           künstlerisch  als  großer  Freiheitskampf,  die  „Sizilianische  Vesper“,  verarbeitet,  z. B.  in
           Verdis  gleichnamiger  Oper.  Hölderlin  könnte  von  dieser  Peter-Gestalt  wegen  dessen
           Verwicklung  in  einen  „Freiheitskampf“  fasziniert  gewesen  sein,  wie  er  ihn  selbst  im

           Hyperion (Griechen  gegen  Türken)  und  in  der  ‘Emilie’  (Korsen  gegen  Genueser)
           verarbeitete.
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