Page 202 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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200              IV.  Kapitel:  Ikarus,  C hristus und Johannes


                        Der schattige Wald
                        Und die sehnsüchtigen Bäche
                        Der Heimat; nimmer kannt’ ich die Länder;
                        Doch bald, in frischem Glanze,             25
                        Geheimnisvoll
                        Im goldenen Rauche, blühte
                        Schnellaufgewachsen,
                        Mit Schritten der Sonne,
                        Mit tausend Gipfeln duftend,               30
                        Mir Asia auf, und geblendet sucht’
                        Ich eines, das ich kennete, denn ungewohnt
                        War ich der breiten Gassen, wo herab
                        Vom Tmolus fährt
                        Der goldgeschmückte Paktol                 35
                         Und Taurus stehet und Messogis,
                         Und voll von Blumen der Garten,
                         Ein stilles Feuer; aber im Lichte
                         Blüht  hoch der silberne Schnee;
                         Und Zeug unsterblichen Lebens             40
                         An unzugangbaren Wänden
                         Uralt der Efeu wächst und getragen sind
                         Von lebenden Säulen, Zedern und Lorbeern,
                         Die feierlichen,
                         Die göttlichgebauten Paläste.             45
                         (‘Patmos T)
           Man  denke  in  diesem  Zusammenhang  auch  an  das  Gedicht  ‘Phantasieflug  nach
           Griechenland’ von Hölderlins Freund und Lehrer Karl Philipp Conz und die häu­
           fige  Flugmotivik  im  Zusammenhang  mit  dessen  „lyrischen“  Griechenlandreisen
           (z. B.  ‘Athen’,  VV.  1-12,  vgl.  Böckmann  1965:  108).  Die  Art  und  Weise,  wie
           Hölderlin  die  ionische Landschaft  (die  kleinasiatische  Insel-  und  Gebirgswelt  der
           heutigen  Türkei)  beschreibt,  gehorcht  sinnhaften  Symmetrien.  Zum  einen  mar­
           kiert  Hölderlin  seine  mythische  Topographie  fast  ausschließlich  durch  Gebirge
           („Tmolus“,  „Taurus“,  „Messogis“)  und  Ströme  („Paktol“),  was  sein  geschichts­
           philosophisches  Denken  sinnfällig  macht.  Hesperische  wie  ionische  Gebirge
           („Alpen“,  „Taurus“)  verkörpern  eben  jene  „Gipfel  der  Zeit“,  von  denen  anfangs
           die Rede war. Zum anderen idealisiert er die reale Landschaft, die er höchstens aus
           Reisebeschreibungen  kannte,188  zu  einer  mythomessianischen  Topographie.  My­
           thische  Implikationen  der  einzelnen  Landschaftselemente  (z. B.  Gebirge  als  Sitz
           der  Götter,  Flüsse  als  Manifestation  des  kulturstiftenden  „Stromgeistes“)  berei­
           chert  Hölderlin  mit  messianischen  und  chiliastischen  Spekulationen.  Die


            188  Zu  den  Reiseberichten,  die  Hölderlin  als  Quellen  für  sein  poetisches  Bild von  Griechen­
               land  und  Kleinasien  dienten,  vgl.  Schmidt  KHA  II: 933f.,  StA  VIII: 4f.  und
               Mieth 1990 [1970]: 810ff.
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