Page 199 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Typologie der Johannesgestalt 197
Die Ikonographie des Kleeblatts veranschaulicht dabei einen uralten Topos: Jeru
salem als optpaköt; oder „Nabel“ und Mitte der Welt (vgl. ‘Oedipus’ V. 915;
‘Ganymed’ V. 20), um den sich die drei Kontinente und folglich die drei Weltvöl
ker gruppieren. Diese Zusammenschau von Genealogie mit Geographie und
christlicher Dreifaltigkeits-Symbolik knüpft an die alttestamentliche Abstam
mungslegende der Menschheit an. Von den drei Söhnen Noahs stammen demnach
die Hauptvölker der Welt ab: von Japhet die „Japhetiden“ oder Europäer und
Hesperier; von Ham die „Chamiten“ oder Afrikaner; und von Sem die „Semiten“
oder Asiaten (was Araber und Juden einschließt). Damit gewinnt Hölderlins my-
thomessianische Genealogie sogar noch ein weiteres universales Moment. Es
lassen sich also zusammenfassend drei biblisch-mythische Typologien unterschei
den, die Hölderlin mit Johannes verknüpft:
1. die rein biblische Typologie, wie z. B. die prophetische Linie (Johannes der
Apokalyptiker, Daniel) oder die messianische Präfiguration (Johannes der
Täufer, Elias, Christus);
2. die mythomessianische Doppeltypologie, z. B. Adler (Zeus/Jahwe) und lyri
sches Ich (Ganymed/Johannes usw.);
3. die rein mythische Archetypik, wie z. B. die Paarungen Heros und Helden
vater bzw. Heldenerzieher (Peleus/Achill; Chiron/Achill;
Adamas/Hyperion) als Parallele für die biblischen Vater-Sohn- bzw. Leh-
rer-Jünger-Beziehungen.
Schließlich aktiviert Hölderlin die typologische und gradualistische Struktur sei
ner messianischen Mythogenese, um seine utopischen Denkinhalte in je andere
Gefäße185 zu gießen, die sich angesichts politischer Anfechtung als haltbarer er
weisen. Die typologische Linie Ruach-Logos-Geist (in der Abfolge: Altes
Testament, Weisheitsliteratur, Johannesevangelium, Paulinische Theologie und
frühromantischer Geistbegriff) faßt Hölderlin in poetische Kunstmythen, die ih
ren Aggregatzustand wechseln. Aus der spirituell-pneumatischen Vorstellung
wird der mythische Adler des ikarischen Geniemenschen; aus den biblischen Mes
siasgestalten die herakleischen Heroen und Halbgötter. Tier- und Menschengestalt
(Adler, Vogel, Held) betonen das körperlich konkrete Moment und lösen die
reine Geistgestalt ab. Das ursprünglich Geistige gerinnt zu mythischen Bildern -
das Pneumatische kristallisiert in Tierbild und Heldengestalt. Das Geistige wird
185 Vgl. Fragment Nr. 38 (KHA I: 435, ZZ. 1-5): „Denn nirgend bleibt er. / Es fesselt / Kein
Zeichen. / Nicht immer / / Ein Gefäß ihn zu fassen.“ Übrigens verdichtet sich auch in der
Gefäßmetapher eine implizite figura mythologica, wenn Hölderlin das Bild des
„dichterischen“ Gefäßes für einen „heldischen“ Inhalt in der Ode ‘Buonaparte’ (VV. 1-3)
unterschwellig als ikarisch-herakleische Entgegensetzung anlegt: „Heilige Gefäße sind die
Dichter, / Worin des Lebens Wein, der Geist / Der Helden sich aufbewahrt [...].“ Dazu
auch ‘Einst hab ich die Muse gefragt...’: „Gefäße machet ein Künstler.“ (V. 26)