Page 207 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die imaginäre Flugreise 205
Das Adlermotiv in ‘Patmos’, in ‘Germanien* sowie in den Entwürfen ‘Das
Nächste Beste’, ‘Wenn Vögel langsam ziehen’ und ‘Der Adler’ restitutiert den kö
niglichen Vogel als Sinnbild des messianisch gefeierten Fürsten, als positiven
Patriarchen, der genealogisch in der deutschen Geschichte verwurzelt ist und dem
eine aktuelle politische Bedeutung zukommt. Restitution einer bändigenden und
befreienden Erlösergestalt hat Hölderlin dabei im Blick, nicht politische Restaura
tion im herkömmlichen Sinne. Davon spricht das Bild des „Retters“ in ‘Der
blinde Sänger’, den das lyrische Ich kommen hört: „den Retter hör ich dann in
der Nacht, ich hör / Ihn tötend den Befreier, belebend ihn [...].“ (ebd. VV. 29f.).
Von einer solchen Aufgabe als „neuer Retter“ spricht auch Manes zu Empedokles
in der dritten Fassung des Dramas: „Der Eine doch, der neue Retter faßt / Des
Himmels Strahlen ruhig auf, und liebend / Nimmt er, was sterblich ist, an seinen
Busen, / Und milde wird ihm der Streit der Welt.“ (VV. 372-375) Inwiefern
Manes auch für Empedokles diese Doppelrolle des „belebend“ befreienden und
„tötend“ bändigenden „Retters“ geltend machen will, belegt der „Entwurf zur
Fortsetzung der dritten Fassung“, wo Hölderlin die 3. Szene des 4. Aktes neu
konzipiert:
Manes, der Allerfahrne, der Seher erstaunt über den Reden des Empedokles, u. s. Gei
ste, sagt, er sei der Berufene, der töte u. belebe, in dem u. durch den eine Welt sich
zugleich auflöse und erneue. (KHA II: 445, ZZ. 10-13)
In der Chiron-Ode schwächt Hölderlin die „tötende“ Rolle des „Befreiers“ ab.
Chirons Erwartung von „Herakles Rückkehr“ aktiviert jedoch die tätige in einem
dilatorischen Sinne. Dabei rücken Empedokles und Herakles an die Seite dieser
restituierten „Retter“ und „Befreier“ Hesperiens, die in ihrem Charakter zwischen
Heroen (Herakles), Erziehern (Chiron) oder „Engeln“ („des Vaterlandes“)
changieren. Im Pindar-Fragment ‘Das Belebende’ nennt Hölderlin diese
kentaurischen Figuren auch „Fürsten des Forsts“. Im Hymnenbruchstück ‘...der
Vatikan....’ evoziert Hölderlin sie als die (hesperischen) „Meister des Forsts“ in
einem Atemzug mit Johannes dem Täufer (dem „Jüngling in der Wüste“, V. 19).
Das bestätigt die Gültigkeit der entworfenen Restitution messianischer Vater
gestalten. Um Restauration in einem herkömmlichen Sinne handelt es sich bei
diesem Prozeß nämlich nicht. Die „Könige“ von einst (die absolutistischen
Despoten, die „Wüstlinge“ und „Wüteriche“) haben mit diesen imaginierten
Fürsten nichts mehr gemein. Sie sind messianisch inspirierte und mythisch
verkörperte Wunsch- und Kunstfiguren.
Im Sinne der messianischen Mythogenese ist es daher müßig, eine historische
Gestalt der Zeit um 1800 (z. B. Napoleon) als „Fürst des Festes“ der ‘Friedensfeier’
festzuschreiben. Hölderlin fixiert keine historische Gestalt, wodurch ein ganzer
Zweig der Hölderlinforschung ad absurdum geführt wird, der immer neue Blüten