Page 208 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 208

206             IV. K apitel:  Ikarus,  C hristus und Johannes


           der Interpretation  in  Form  von personalen Namen  des  „Friedefürsten“  getrieben

           hat (Christus, Napoleon, Rousseau u. a.).194
               Hölderlin rettet die Fürstenrolle vielmehr in einem allgemeineren und kollek­
           tiven  Sinne,  wie  etwa  in  der  jüdischen  Prophetik  das  Alten  Testaments.  Auch
           typologisch läßt sich diese Messiasvorstellung mit  der Johannesgestalt zusammen­

           bringen:  mit  dem  Messias  bei  Daniel. Der  Johannes  der  Offenbarung,  der  letzte

           Apokalyptiker,  vollendete  die  messianischen  Gesichte  des  ersten Apokalyptikers
           Daniel in seiner grandiosen Vision. Im Buch Daniel vereint  nämlich der messiani-
           sche „Menschensohn“  (Da 7,  13)  aus den „Wolken des Himmels“  (ebd.)  nicht nur
           kosmische, transzendente und nationale Züge, sondern sein Wesen ist auch plura-
           lisiert:  er  steht  für  das  „Volk  der  Heiligen  des  Höchsten“  (7,  27).  Die
           Messiaserwartung  Daniels  hat  also  zwei  Seiten:  Die  Kollektivität  des
           „Menschensohns“  wird komplementiert  durch eine politisch-historische Einzelge­
           stalt,  die  Daniel  „Engelfürst“  (12,  1)  oder  „Wächter“  (4,  10)  nennt.  Dieser
           Aufteilung der Messiasfigur folgt  Hölderlin mit  den Namenslisten  und genealogi­
           schen Assoziationen seiner späten Entwürfe, Pläne und Skizzen.
               Die mythomessianische Doppelstruktur der Prophezeiung bei Daniel und die
           jüdische Kontur der Naherwartung in  der Offenbarung des Johannes  erlaubt  die
           Vermittlung  zwischen  abstrakter  und  konkreter  Vorstellung vom  „Fürst[en]  des
           Fests“.  Daniel-Apokalypse  und  Johannes-Offenbarung  sind  ein  Produkt  der  jü­
           disch-hellenistischen Welt.  Die  griechisch  gefärbte  mythische Kosmosstruktur im
           Schema bei Daniel  oder das Bildergewimmel der Johannesoffenbarung sind helle-
           nisiert.  Die ideell-bildliche  Doppelnatur der judäochristlichen  Messiasvorstellung
           vor  hellenistischem  Hintergrund  ist  damit  der  geistige  Nährboden,  aus  dem
           Hölderlin  mit  seiner  messianischen  Mythogenese  zehrt.  So  hat  der  jüdisch
           gedachte „Menschensohn“  bei Daniel deutlich pseudo-mythische Züge, wie in sei­
           nen  Engel-  und  Wächtergestalten  zum  Ausdruck  kommt.  Die  Herabkunft  des
           „Menschensohns“  „von oben“  legt einen ganz und gar mythischen Kosmosbegriff
           zugrunde,  wie  er  in  der  hellenistischen  Entstehungszeit  des  Danielbuchs  vor­
           herrschte.
               Die  kollektiven  Züge  des  Messias  bei  Daniel  (als  „Volk  der  Heiligen  des
           Höchsten“:  als Gruppe Auserwählter mit  messianischem Anspruch)  durchwirken
           Hölderlins  Metapher  des  „Fürstenchors“  (‘Blödigkeit’,  VV.  llf.).  Das  heroische
           Fürstenbild versteht  sich  so  als  Mythisierung einer  urjüdischen  Messiasidee.  Wie
           die  griechische  Sinnlichkeit  die  rein  ideelle  Natur  des  hellenistischen Judentums
           mit Bildern und Mythen gefährdet hatte, so erahnte Hölderlin in der Verbindung
           von  jüdisch-christlicher  Idealität  und  griechischer  Plastizität  „das  Rettende“  für
           sein aufgeklärtes Jahrhundert,  das der eigenen Rationalität  zu erliegen drohte.  Al­
           lerdings  überfrachtete  er  die  ursprüngliche  Messiasidee  bei  Jesaja,  Daniel  oder


            194  Zum  Forschungsüberblick  im  altehrwürdigen  Streit  um  die  ‘Friedensfeier’  vgl.  neben
              Pannwitz  1955 vor allem Lachmann  1975: 7f.; Heinrich Buhr (Lachmann  1975: 41-83) und
              Erika Reichle (Buhr 1977: 7-40).
   203   204   205   206   207   208   209   210   211   212   213