Page 239 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Paulus und Chiron 237
Zeitbruch, die absolute Singularität am Ende aller Zeit.219 Der Kentaur ist also
nicht nur innerhalb seiner mythischen Welt ein tragisch Zerrissener, wie etwa
Prometheus, der vom Adler der jovistischen Vergeltung zerfressen im abgedunkel
ten Hintergrund der Ode ausharrt. Chiron ist auch ein zwischen tragischer und
christlicher Welt, mythischem Kosmos und messianischem Orbis zerrissenes Ich:
ein kentaurisches Genie an der Schwelle vom Tragischen zum Messianischen.
Diese „Schwelle“ verläuft genau am Übergang von der III. zur IV. Triade (in
Atempause und Gedankensprung zwischen V. 36 und 37):
[...] ein Schmerz,
Wenn einer zweigestalt ist, und es
Kennet kein einziger nicht das Beste;
Das aber ist der Stachel des Gottes; nie
Kann einer lieben göttliches Unrecht sonst. (VV. 34-38)
Die Strophenzäsur markiert den Übergang zwischen tragischer Theodizee und
messianischer Überwindungsverheißung. In seiner tragischen Zwiegestalt, die mit
der schicksalhaften Notwendigkeit des Mythischen verwachsen ist, kann Chiron
die messianische Erlösung („das Beste“, V. 36) zwar schon erkennen, aber noch
nicht am eigenen Leibe kennen lernen. Der Kentaur muß sich mit dem tragischen
Zustand abfinden und das „göttliche Unrecht“ „lieben“ (VV. 37f.). Dies verstärkt
die doppelte Verneinung {„kein einziger nicht“, V. 36), die aber zugleich Anzei
chen dafür ist, daß Chiron den Erlösungszustand, den Zustand „reiner Positivität“
zumindest artikulieren kann.220 Der Kentaur „kennt“ das „Beste“ und er kennt es
219 Die Belegstellen für „das Beste“ aus der ‘Friedensfeier’ bestätigen diese eschatologische In
terpretation des Begriffes (vgl. auch Schmidt KHA I: 807f.): „Aber das Beste, der Fund, der
unter des heiligen Friedens / Bogen lieget, er ist Jungen und Alten gespart.“ (‘Heimkunft’,
V. 79f.); „Ein Gott weiß aber / Wenn kommet, was ich wünsche das Beste.“ (‘Der Einzige’
I, V. 90f.); „Schicksalgesetz ist dies, daß Alle sich erfahren, / Daß, wenn die Stille kehrt,
auch eine Sprache sei. / Wo aber wirkt der Geist, sind wir auch mit, und streiten, / Was
wohl das Beste sei. So dünkt mir jetzt das Beste, / Wenn nun vollendet sein Bild und fertig
ist der Meister, / Und selbst verklärt davon aus seiner Werkstatt tritt / Der stille Gott der
Zeit und nur der Liebe Gesetz, / Das schönausgleichende gilt von hier an bis zum
Himmel.“ (‘Friedensfeier’, VV. 83-90)
220 Übrigens hat Hölderlin eine große Vorliebe für die einfache oder doppelte Negation, um
sich dem Absoluten als Überwindung aller Positivität sprachlich zu nähern (vgl. Pestalozzi
1970: 70-77). Das veranschaulichen folgende Belegstellen aus der ‘Friedensfeier’: -
Zeitaspekt: „Da Herrschaft nirgend ist zu sehn bei Geistern und Menschen“ (V. 28); „Denn
schonend rührt des Maßes allzeit kundig / Nur einen Augenblick die Wohnungen der
Menschen / Ein Gott an, «nversehn, und keiner weiß es, wenn?“ (VV. 52-54) -
Raumaspekt: „Doch wenn du schon dein Ausland gern verleugnest [...] (V. 16) - Wesen des
Gottes: „Denn «nermeßlich braust, in der Tiefe verhallend, / Des Donnerers Echo, das
tausendjährige Wetter [...] (VV. 3 lf.); „Nicht er allein, die {/«erzeugten, Ew’gen / Sind
kennbar alle daran [...] (VV. 97f.); „Dich, Unvergeßlicher [...] (V. 111); „All ihr