Page 100 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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einem  ziemlich großen  Nebenzimmer, das  ehedem  zu Spielpartien
                        gedient hatte, waren nun beide Geschlechter meist beisammen  und
                        schienen sich so wenig unter einander selbst als vor uns Kindern zu

                        scheuen,  wenn  es  bei’m  Anlegen  oder  Verändern  der  Kleidungs-
                        stücke  nicht  immer  zum  anständigsten  herging.  Mir  war  der-
                        gleichen niemals  vorgekommen, und doch  fand  ich es  bald  durch
                        Gewohnheit, bei wiederholtem Besuch, ganz natürlich.« (›Aus mei-
                        nem  Leben.  Dichtung  und  Wahrheit‹,  Erster  Teil,  Drittes  Buch;

                        Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 26, 1889, S. 141-144)


                                                 3. Wetzlarer Rittertafel


                        »Da ich mir alle diese ältern und neuern Zustände möglichst ver-
                        gegenwärtigt hatte, konnte ich mir von meinem Wetzlar’schen Auf-
                        enthalt unmöglich viel Freude  versprechen. […]

                           Daß  mir,  außer  dem  deutschen  Civil-  und  Staatsrechte,  hier
                        nichts Wissenschaftliches sonderlich begegnen, daß ich aller poe-
                        tischen Mittheilung entbehren würde, glaubte ich voraus zu sehn,
                        als  mich,  nach  einigem  Zögern,  die  Lust  meinen  Zustand  zu  ver-
                        ändern,  mehr  als  der  Trieb  nach  Kenntnissen,  in  diese  Gegend

                        hinführte.  Allein  wie  verwundert  war  ich,  als  mir  anstatt  einer
                        sauertöpfischen Gesellschaft, ein drittes akademisches Leben entge-
                        gensprang. An einer großen Wirthstafel traf ich beinah sämmtliche

                        Gesandtschaftsuntergeordnete,  junge  muntere  Leute,  beisammen;
                        sie nahmen mich freundlich auf, und es blieb mir schon den ersten
                        Tag kein Geheimniß, daß sie ihr mittägiges Beisammensein durch
                        eine romantische Fiction erheitert hatten. Sie stellten nämlich, mit
                        Geist und Munterkeit, eine Rittertafel vor. Obenan saß der Heer-

                        meister,  zur  Seite  desselben  der  Canzler,  sodann  die  wichtigsten
                        Staatsbeamten:  nun  folgten  die  Ritter,  nach  ihrer  Anciennetät;
                        Fremde hingegen, die zusprachen, mußten mit den untersten Plät-

                        zen  vorlieb  nehmen,  und  für  sie  war  das  Gespräch  meist  unver-
                        ständlich,  weil  sich  in  der  Gesellschaft  die  Sprache,  außer  den
                        Ritterausdrücken, noch mit manchen Anspielungen bereichert hatte.
                        Einem  jeden  war  ein  Rittername  zugelegt,  mit  einem  Beiworte.
                        Mich  nannten  sie  Götz  von  Berlichingen,  den  Redlichen.  Jenen







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