Page 97 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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I. Johann Wolfgang von Goethe



                                               1. Frankfurter Puppenspiel


                        (a)  »Gewöhnlich  hielten  wir  uns  in  allen  unsern  Freistunden  zur

                        Großmutter,  in  deren  geräumigem  Wohnzimmer  wir  hinlänglich
                        Platz zu unsern Spielen fanden. Sie wußte uns mit allerlei Kleinig-
                        keiten zu beschäftigen, und mit allerlei guten Bissen zu erquicken.
                        An einem Weihnachtsabende jedoch setzte sie allen ihren Wohltha-
                        ten  die Krone auf, indem sie uns ein Puppenspiel vorstellen ließ,

                        und  so  in  dem  alten  Hause  eine  neue  Welt  erschuf.  Dieses  uner-
                        wartete Schauspiel zog die jungen Gemüther mit Gewalt an sich;
                        besonders auf den Knaben machte es einen sehr starken Eindruck,

                        der  in  eine  große  langdauernde  Wirkung  nachklang.  Die  kleine
                        Bühne mit ihrem stummen Personal, die man uns anfangs nur vor-
                        gezeigt hatte, nachher aber zu eigner Übung und dramatischer Be-
                        lebung übergab, mußte uns Kindern um so viel werther sein, als es
                        das  letzte  Vermächtniß  unserer  guten  Großmutter  war,  die  bald

                        darauf durch zunehmende  Krankheit unsern  Augen erst  entzogen,
                        und dann für immer durch den Tod entrissen wurde.« (›Aus mei-
                        nem  Leben.  Dichtung  und  Wahrheit‹,  Erster  Teil,  Erstes  Buch;
                        Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 26, 1889, S. 18f.)


                        (b) »Man hielt uns Kinder mehr als bisher zu Hause, und suchte uns

                        auf mancherlei Weise zu beschäftigen und zu unterhalten. Zu sol-
                        chem Ende hatte man das von der Großmutter hinterlassene Pup-
                        penspiel  wieder  aufgestellt, und  zwar  dergestalt  eingerichtet, daß
                        die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen, die spielenden und
                        dirigirenden  Personen  aber,  so  wie  das  Theater  selbst  vom  Pro-

                        scenium  an, in einem Nebenzimmer Platz und Raum fanden. […]
                        Wir  hatten  das  ursprüngliche  Hauptdrama,  worauf  die  Puppen-
                        gesellschaft  eigentlich  eingerichtet  war,  auswendig  gelernt,  und

                        führten  es  anfangs  auch  ausschließlich  auf;  allein  dieß  ermüdete
                        uns  bald,  wir  veränderten  die  Garderobe,  die  Decorationen,  und
                        wagten uns an verschiedene Stücke, die freilich für einen so kleinen
                        Schauplatz zu weitläufig waren. Ob wir uns nun gleich durch diese







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