Page 98 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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Anmaßungen dasjenige was wir wirklich hätten leisten können,
verkümmerten und zuletzt gar zerstörten, so hat doch diese
kindliche Unterhaltung und Beschäftigung auf sehr mannichfaltige
Weise bei mir das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die
Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert, wie
es vielleicht auf keinem andern Wege, in so kurzer Zeit, in einem so
engen Raume, mit so wenigem Aufwand hätte geschehen können.«
(›Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit‹, Erster Teil, Zweites
Buch; Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 26, 1889, S. 74f.)
2. Französisches Theater
»Von meinem Großvater hatte ich ein Freibillett erhalten, dessen
ich mich, mit Widerwillen meines Vaters, unter dem Beistand mei-
ner Mutter, täglich bediente. Hier saß ich nun im Parterre vor einer
fremden Bühne, und paßte um so mehr auf Bewegung, mimischen
und Rede-Ausdruck, als ich wenig oder nichts von dem verstand
was da oben gesprochen wurde, und also meine Unterhaltung nur
vom Gebärdenspiel und Sprachton nehmen konnte. Von der Ko-
mödie verstand ich am wenigsten, weil sie geschwind gesprochen
wurde und sich auf Dinge des gemeinen Lebens bezog, deren Aus-
drücke mir gar nicht bekannt waren. Die Tragödie kam seltner vor,
und der gemessene Schritt, das Tactartige der Alexandriner, das
Allgemeine des Ausdrucks machten sie mir in jedem Sinne faß-
licher. Es dauerte nicht lange, so nahm ich den Racine, den ich in
meines Vaters Bibliothek antraf, zur Hand, und declamirte mir die
Stücke nach theatralischer Art und Weise, wie sie das Organ mei-
nes Ohrs und das ihm so genau verwandte Sprachorgan gefaßt
hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich noch eine ganze Rede
im Zusammenhang hätte verstehen können. Ja ich lernte ganze
Stellen auswendig und recitirte sie, wie ein eingelernter Sprach-
vogel; welches mir um so leichter ward, als ich früher die für ein
Kind meist unverständlichen biblischen Stellen auswendig gelernt
und sie in dem Ton der protestantischen Prediger zu recitiren mich
gewöhnt hatte. Das versificirte französische Lustspiel war damals
sehr beliebt; die Stücke von Destouches, Marivaux, La Chaussée
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