Page 110 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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(Fragmente über Menschendarstellung 1785, I, 3, S. 32)
3. Über »Menschendarstellung«
»Nur der stellt Menschen dar, welcher die Mehrheit täuscht.
Nur der kann andere täuschen, welcher selbst sich täuscht.
Wer die Mehrheit nicht täuscht, der erzählt von dem Menschen,
den er darstellen soll.
Das Erste, ist Natur und Wahrheit. Das Zweite, ist die Komö-
dienkunst.
Wenn die Natur in der Menschendarstellung, das allerfeinste
Gefühl für das sinnlich Schöne nicht verletzt, dann ist auch gewiß
die Gränze derselben, das sittlich Schöne, beobachtet: da die
Bestimmung von diesem, aus dem Gefühl von jenem entstanden ist.«
(Fragmente über Menschendarstellung 1785, I, 3, S. 32f.)
4. Was ist ›Natur‹ auf der Bühne?
»Was ist Natur, und wie weit geht ihre Gränze auf der Bühne? [...]
Die Darstellung des ganzen Menschen, ist ohne Begeisterung nicht
möglich.
Daher darf die Natur in ihren reichen Ausstattungen die ächten
Schauspieler nicht vergessen haben.
Lebendig oder leblos, alles in der Natur ist ihnen deutliche Spra-
che; so empfangen sie von jedem Gegenstande, Stoff für Geistes-
reichthum und Einbildungskraft, von welcher die Täuschung ab-
hängt. Sie haben hohes Gefühl für Harmonie. Einen fassenden Blick
der alle minutissima der feurigen Einbildungskraft übergiebt.
Witz ‒ ein feines ‒ feines Gefühl für das sinnich Schöne. Unter-
scheidungskraft. Hierzu führt die Bildung eine geschärfte Kritik,
welche alle diese Eigenschaften, zu Erreichung eines Zwecks
ordnet. Von der Natur ist die ächte Kunst unzertrennlich. Die ächte
Kunst ‒ Darunter verstehe ich die Einwürkung der Kunst, an wel-
che man, ehe man sich ihrer bedient, eben so wenig vorher denkt,
als an die Einwürkung der Nerven in die Handlungen des Körpers.
Kunst leitet die Natur, und Natur berichtiget die Kunst.
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