Page 107 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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welche durch ihren Inhalt hervorgebracht werden können.«
(›Regeln für Schauspieler‹, §§18-19. Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 40,
1901, S. 144-46 ‒ Hervorhebungen original)
(b) »Ganz anders aber ist es bei der Declamation oder
gesteigerten Recitation. Hier muß ich meinen angebornen Charak-
ter verlassen, mein Naturell verläugnen und mich ganz in die Lage
und Stimmung desjenigen versetzen, dessen Rolle ich declamire.
Die Worte, welche ich ausspreche, müssen mit Energie und dem
lebendigsten Ausdruck hervorgebracht werden, so daß ich jede
leidenschaftliche Regung als wirklich gegenwärtig mit zu empfin-
den scheine.
Hier bedient sich der Spieler auf dem Fortepiano der Dämpfung
und aller Mutationen, welche das Instrument besitzt. Werden sie mit
Geschmack, jedes an seiner Stelle gehörig benutzt, und hat der
Spieler zuvor mit Geist und Fleiß die Anwendung und den Effect,
welchen man durch sie hervorbringen kann, studirt, so kann er
auch der schönsten und vollkommensten Wirkung gewiß sein.
Man könnte die Declamirkunst eine prosaische Tonkunst nennen,
wie sie denn überhaupt mit der Musik sehr viel Analoges hat. Nur
muß man unterscheiden, daß die Musik, ihren selbsteignen
Zwecken gemäß, sich mit mehr Freiheit bewegt, die Declamirkunst
aber im Umfang ihrer Töne weit beschränkter und einem fremden
Zwecke unterworfen ist. Auf diesen Grundsatz muß der Decla-
mirende immer die strengste Rücksicht nehmen. Denn wechselt er
die Töne zu schnell, spricht er entweder zu tief oder zu hoch oder
durch zu viele Halbtöne, so kommt er in das Singen; im entgegen-
gesetzten Fall aber geräth er in Monotonie, die selbst in der
einfachen Recitation fehlerhaft ist ‒ zwei Klippen, eine so
gefährlich wie die andere, zwischen denen noch eine dritte
verborgen liegt, nämlich der Predigerton. Leicht, indem man der
einen oder anderen Gefahr ausweicht, scheitert man an dieser.«
(›Regeln für Schauspieler‹, §§20-21. Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 40,
1901, S. 146f. ‒ Hervorhebungen original)
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