Page 106 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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ander,  für  dießmal  Abschied  nahmen.«  (›Biographische  Ein-
                        zelnheiten: Besuch von Iffland, auf meiner Reise über Mannheim
                        nach der Schweiz  im Jahre 1779‹. Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 36,

                        1893, S. 243)


                                           7. ›Recitation‹ und ›Declamation‹


                        (a) »Unter Recitation wird ein solcher Vortrag verstanden, wie er
                        ohne  leidenschaftliche  Tonerhebung,  doch  auch  nicht  ganz  ohne
                        Tonveränderung  zwischen  der  kalten  ruhigen  und  der  höchst
                        aufgeregten Sprache in der Mitte liegt.
                           Der Zuhörer fühle immer, daß hier von einem dritten Objecte die

                        Rede sei.
                           Es wird daher gefordert, daß man auf die zu recitirenden Stellen
                        zwar den angemessenen Ausdruck lege und sie mit der Empfindung

                        und dem Gefühl vortrage, welche das Gedicht durch seinen Inhalt
                        dem Leser einflößt, jedoch soll dieses mit Mäßigung und ohne jene
                        leidenschaftliche Selbstentäußerung geschehen, die bei der Decla-
                        mation erfordert wird. Der Recitirende folgt zwar mit der Stimme
                        den Ideen des Dichters und dem Eindruck, der durch den sanften

                        oder  schrecklichen, angenehmen oder  unangenehmen  Gegenstand
                        auf  ihn gemacht  wird;  er  legt  auf das  Schauerliche den schauer-
                        lichen,  auf  das  Zärtliche  den  zärtlichen,  auf  das  Feierliche  den

                        feierlichen Ton, aber dieses sind bloß Folgen und Wirkungen des
                        Eindrucks, welchen der Gegenstand auf den Recitirenden macht; er
                        ändert  dadurch  seinen  eigenthümlichen  Charakter  nicht,  er
                        verläugnet sein Naturell, seine Individualität dadurch nicht, und ist
                        mit  einem  Fortepiano  zu  vergleichen  auf  welchem  ich  in  seinem

                        natürlichen, durch die Bauart erhaltenen Tone spiele. Die Passage,
                        welche ich vortrage, zwingt mich durch ihre Composition zwar das
                        forte oder piano, dolce oder furioso zu beobachten, dieses geschieht

                        aber,  ohne  daß  ich  mich  der  Mutation  bediene,  welche  das
                        Instrument besitzt, sondern es ist bloß der Übergang der Seele in
                        die  Finger,  welche  durch  ihr  Nachgeben,  stärkeres  oder  schwä-
                        cheres Aufdrücken und Berühren der Tasten den Geist der Compo-
                        sition in die Passage legen und dadurch die Empfindungen erregen,







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