Page 57 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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Weltkultur hat der Person und dem Werk Goethes nichts von seiner
Attraktionskraft genommen, im Gegenteil. Goethes Bildungs- und
Humanitätsideal wird gerade in Zeiten des vielbeschworenen
Kulturkampfes zwischen ›dem‹ Westen und dem Neuen Osten,
sprich: der asiatischen und islamischen Welt, als versöhnende Idee
ins Feld geführt. Vor allem Goethes West-östlicher Divan dient
dabei als zeitlose Referenz. Mögen Werke der Weltliteratur wie der
Werther oder der Faust angesichts schnelllebiger Bildungsreformen
selbst im Schulunterricht nicht mehr durchgängig gelesen werden ‒
von Schülern und Studierenden ›genannt‹ und irgendwie ›gekannt‹
bleiben sie als Schlüsselwerke allemal.
Angesichts dieser immer noch identitätsentstiftenden Kanoni-
sierung Goethes erscheint Ifflands Genius der Nachwelt in einem
schwachen Licht. Aber handelt es sich bei einer Ausnahme-
begabung wie Iffland wirklich um einen verkannten oder gar ›zu
Unrecht‹ vergessenen ›Autor‹? Die von der Frageformel vorgege-
bene Vokabel ›Autor‹ identifiziert das Bezugssystem, das wohl
kaum von moralischen Prinzipien wie einer höheren Gerechtigkeit
gesteuert wird. Dabei handelt es sich um das ›Kanonsystem‹ der
Literatur. Denn der Theaterschriftsteller Iffland kann, wie schon
gezeigt, als heute vergessener literarischer Autor gelten. Ob dieser
Fall als Folge quasi zufälliger Prozesse eintritt ‒ also ein »Kanon-
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ausschluss«, der einfach ›passiert‹ ‒ oder ob er das Resultat
absichtsvoller Strategien ist, wie etwa einer negativen Kanoni-
sierung von dritter oder gar »unsichtbarer« Hand, bleibt um-
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stritten.
Mag Iffland als Autor im Schatten stehen; als Namensgeber des
›Iffland-Rings‹ bleibt er als bis heute anerkanntes Vorbild für
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Waltraud Maierhofer: Die Ausgeschlossenen. Drei Fälle von Fremd-
inszenierung und Kanonausschluss im Umfeld Goethes. In: Robert
Charlier/Günther Lottes (Hrsg.): Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse
der Herstellung kultureller Identität (Aufklärung und Moderne; 20). Han-
nover 2009, S. 99-120.
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Vgl. z. B. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In:
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Literarische Kanonbildung (Text und Kritik.
Zeitschrift für Literatur; Sonderband IX/02). München 2002, S. 9-24.
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