Page 59 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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                        Überraschung.  So ist das Berliner Porträt August Wilhelm Iffland
                        als Pygmalion von Anton Graff sicher als künstlerisch bedeutender
                        anzusehen  als  das  vergleichbare,  bereits  mehrfach  erwähnte
                        Weimarer Parallelstück von Georg Melchior Kraus, das Goethe als

                        Laiendarsteller in der Rolle des Orest darstellt. Zwar repräsentiert
                        dieses  Bild  heute  eine  »symbolische  Chiffre«  für  die  Weimarer
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                        Klassik  schlechthin.   Auch  zeichnet  es  Goethe  nicht  nach  dem
                        Leben,  sondern  idealisiert  im  Sinne  klassizistischer  Büsten  des
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                        Dichters.   Als  von  Iffland  beauftragter  Porträtmaler  war  Anton
                        Graff andererseits einer der Porträtmaler jener Epoche, wir würden
                        heute sagen: der Berliner Starfotograf, dem alle Prominenten gerne
                        Modell saßen. Iffland besaß also ein Prestige, das es ihm erlaubte,

                        den ranghohen Vertretern des Blut-, Geistes- und Geldadels seiner
                        Zeit an die Seite gestellt zu werden. Im provinziellen Weimar wird
                        ein  Goethe  dagegen  ‒  wohlgemerkt:  nicht  als  literarischer  Held,
                        sondern als Laiendarsteller ‒ von einem Maler geringeren Ranges

                        porträtiert.
                           Für diesen Vergleichsfall ‒ die Künstlerpersönlichkeit als Gegen-
                        stand eines Porträts ‒ könnte man also formulieren: Innerhalb des
                        Kanonsystems der bürgerlichen Gesellschaftsmalerei jener Epoche

                        rangierte Iffland für einen historischen Moment auf einer höheren
                        Stufe als Goethe. Die Stellung einer Person oder eines Werkes ist
                        also  stets  abhängig  vom  referenzierten  System  kanonischer  Aus-
                        wahl und Bewertung. Rang und Ort innerhalb eines Kanons können

                        nicht  zwingend  verallgemeinert  werden.  Denn  bei  aller  Unver-
                        brüchlichkeit des Goethebildes und des Weimarmythos: Weder die




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                           Vgl.  z. B.  das  Verzeichnis  historischer  Iffland-Bildnisse  bei  Friedrich
                           Walter: Beiträge zur Iffland-Biographie. In: Mannheimer Geschichtsblätter
                           11 (1910), Nr. 12, hier Sp. 247-250.
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                           Vgl. B. Knorr 2003, Bd. 1, S. 116 (»Literatur«, Punkt 6: »Bildquellen«). In
                           ihrem  Forschungsreferat  verweist  die  Verfasserin  ebd.  u. a.  auf  Jochen
                           Klauß: Georg Melchior Kraus, ›Iphigenie auf Tauris‹. Goethe als Orest und
                           Corona  Schröter  als  Iphigenie,  in:  Thüringer  Museumshefte,  hrsg.  vom
                           Museumsverband Thüringen e.V., Heft 2, Weimar 2002, S. 104f.
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                           Vgl. B. Knorr 2003, Bd. 1, S. 117f. (wie im Vorigen).





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