Page 58 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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deutschsprachige Schauspieler sehr lebendig. Dabei fungiert Iffland
                        allerdings  eher  als  ein  persönliches  »Künstleridol«  (Viktor  Rei-
                        mann, 1962) und nicht als Urheber eines kanonischen Werkes, aus
                        dem  sich  die  Identität  einer  ganzen  Kulturnation  speist.  Eine

                        ›Kanonbildung‹ innerhalb der darstellenden Bühnenkunst folgt also
                        ganz anderen Rollenmustern als in der Literatur.
                           Diese  Tendenz  zur  personenbezogenen  Kanonisierung  spiegelt
                        auch  Begründungslegende  des  Rings,  die  eher  an  die  Geschichte

                        einer  verschworenen  Bruderschaft  erinnert.  Der  Ringinhaber
                        entscheidet  nämlich  selbst  über  die  Weitergabe.  Auf  diese  Weise
                        ›wandert‹  das kanonische  Prestige von  Generation  zu  Generation.
                        Wohingegen  der  eher  werkbezogene  Klassikerstatus  eines  Goethe

                        oder  Schiller  vergleichsweise  zeitlos  gültig  und  womöglich  sogar
                        unverrückbar  erscheint.  Der  Unterschied  zwischen  persönlicher
                        ›Vererbung‹  und  fremdinstanzlicher  Zuschreibung  eines  Kanon-
                        rangs spiegelt sich auch in der Form der Auszeichnung. Haftet dem

                        Ring als persönlichem Schmuckstück stets eine körperlich greifbare
                        Verbundenheit  mit  dem  wertgeschätzten  Idol  (und  sei  es  allein
                        durch  die  im  Ring  verkörperte  Finger-  oder  Körpergröße  seines
                        ersten  bzw.  jeweiligen  Trägers),  so  verstehen  sich  etwa  Goethe-

                        oder  Schillerpreise  als  Auszeichnungen,  die  von  solcher  Körper-
                        lichkeit  abstrahieren.  Handelt  es  sich  um  dotierte  Preise,  so
                        geschieht  die  Übertragung  kraft  der  entsprechenden  Preissumme.
                        Selbst  bei  einer  Goethemedaille  oder  Schillerplakette  keinerlei

                        körperliche Verbindung mehr zur Aura des Namensgebers.
                           Protagonisten  und  Prozesse  der  Kanonbildung  innerhalb  von
                        Literatur und Schauspielkunst sind also in höchstem Maß divergent.
                        Möglicherweise existiert gar keine allgemeingültige Position eines

                        potentiellen Kanonkandidaten, sondern lediglich je unterschiedliche
                        Rangstellungen  innerhalb  konkurrierender  Überlieferungen. Mani-
                        fest  werden  diese  in  der  Literatur  und  Literaturgeschichte,  der
                        Schauspielkunst  (im  Unterschied  zu:  Theatergeschichte),  in  der

                        historischen Biografik oder der Porträtkunst des 19. Jahrhunderts.
                           Die Kanonisierung in der Malerei bietet in diesem Fall sogar eine










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