Page 60 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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Weimarer Theaterästhetik noch die Goethesche Bühnenpraxis
vermochten sich auch nur ansatzweise durchzusetzen. Goethes
›Regeln für Schauspieler‹ (1803/24), der Versuch, seine eigen-
willigen Vorstellungen in einer strikten Regelsammlung zusam-
menzufassen, um sie an eine jüngere Generation von Eleven
weiterzugeben, waren schon unter den Weimarer Theaterschülern
umstritten und sorgten unter den Zeitgenossen für Spott. Als
Theaterästhetiker, Theaterautor, Theaterleiter und Theaterregisseur
mag Goethe erschöpfend erforscht sein. Phasen und Facetten der
leidenschaftlichen Schauspielerei in seinem Leben erscheinen
keineswegs ausreichend gewürdigt. Dabei gälte es, zunächst seine
reine ›Bühnenperfomance‹ zu rekonstruieren, wie sie sich aus den
Quellen und Fremdzeugnissen erschließt. Zu oft wurden solche
Ansätze bislang vom Übergewicht einer Betrachtung der Weimarer
Theaterästhetik erdrückt. Der Weltruf des Überautors Goethe ließ
die Betrachtung des ›kleinen‹ Bühnendarstellers nicht wirklich zu.
Entsprechend erscheinen Goethes Ambitionen, auch als Schau-
spieler vor einem kleinen höfischen Publikum zu reüssieren, im
Gegensatz zu seiner Rolle als deutscher ›Dichter und Denker‹ eher
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in den Hintergrund geraten. In seiner biografischen Rolle als
Dilettant auf den Brettern, die die Welt bedeuten, konnte also auch
ein Klassiker wie Goethe bis zu einem gewissen Grade in Verges-
senheit geraten. Jedenfalls spiegelt sich in dieser Teilvergessenheit
von Goethes ›Bühnenbiografie‹ gleichsam invers auch die Nicht-
Kanonisierung Ifflands zum ›klassischen‹ Autor.
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Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass mit Krausʼ Goethe als
Orest eine Momentaufnahme Goethes ›als Schauspieler‹ zu einer Ikone der
Weimarer Klassik geworden ist. Auch Theobald von Oers Gemälde Der
Weimarer Musenhof (1860) zeigt den kanonisierten Klassiker als ›Acteur‹
auf einer ›Bühne‹: Schiller deklamierend im Park von Tiefurth. Auch diese
Darstellung ist zu einem Sinnbild für die ›deutsche‹ Klassik geworden.
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