Page 121 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 121

Richtschnur für stilistische Angemessenheit und sprachliche Richtigkeit. Diese
               Geistesströmung wurde später mit Blick auf deren Rückwärtsgewandtheit
               zum Griechentum auch als Archaismus oder Attizismus bezeichnet. Fronto
               selbst wirkte dabei wiederholt als ›Richter‹ in philologischen Streit- und
               Ermessensfragen. Im berühmten Streitgespräch um die grammatische Kor-
               rektheit der Verwendung von Pluralwörtern bzw. Substanz- oder Masse-
               Bezeichnungen (Singularetantum) im klassischen Latein verweist Fronto
               auf Caesars De Analogia als kanonische Schrift und Maßstab aller Dinge.
               Überhaupt markieren Marcus Tullius Cicero (106 bis 43 v. Chr.) und Gaius
               Julius Caesar (100 bis 44 v. Chr.) mit ihren Lebensdaten in etwa die Grenze
               der aus Gellis’ Sicht vorbildlichen und daher allein zitierwürdigen Autoren
               aus (spät)republikanischer Zeit. Die Gellius zufolge von Cornelius Fronto
               aufgerufene Schaffenszeit der ›römischen Klassiker‹ lag damit fast 250 Jahre
               zurück. Dies impliziert einen zeitlichen Abstand zu einer Autorengruppe,
               die im Nachhinein zu einem Kanon von mustergültigen Klassikern erhoben
               wird, der in etwa mit der historischen Epochendistanz vergleichbar ist, die es
               für einen heutigen Gymnasiasten bei der Goethelektüre zu überbrücken gilt.


                  Als Fronto einen namentlich nicht näher benannten, in jener Zeit promi-
               nenten römischen Dichter ermahnt, Wörter wie lat. harena, Sandmasse(n), nie
               im Singular und lat. quadrigae, Vierergespann, dagegen immer im Plural zu
               verwenden, entbrennt eine wortreiche Debatte um Feinheiten des Numerus-
               Gebrauchs bei denjenigen lateinischen Wörtern, die bereits von vorneherein
               entweder eine Art des natürlichen Singulars oder Plurals aufweisen. Im
               konkreten Fall hatte der besagte Dichter von einer erfolgreichen Behandlung
               seiner angeschlagenen Gesundheit mit »heißen Sandmassen« berichtet, wobei
               er sich des Ausdrucks »arenis calentibus« bediente. Er verwendete die Vokabel
               für Sand also in der Mehrzahl. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und
               wurde daher auch aspiriert harena ausgesprochen. Das deutsche Wort Arena
               (›Sandplatz für Aufführungen‹) ist davon abgeleitet. Unter Berufung auf
               Caesars kanonische Schrift über guten Stil macht Fronto seinen ehrfürchtigen
               Zuhörern klar, dass man sich im Zweifelsfall nach diesen alten Autoritäten
               zu richten habe und zitiert die entsprechenden Abschnitte aus De Analogia.
               Der streitbare Dichter akzeptiert dieses Argument zwar für den zweiten in
               Rede stehenden Fall. Aber bei weiteren Wortbeispielen sowie angesichts der
               Uneindeutigkeit der Caesarschen Aussagen beharrt der Dichter auf einigen
               Spitzfindigkeiten. Da er indes einsehen muss, dass auch ein Caesar kaum aus




                                                                                117
   116   117   118   119   120   121   122   123   124   125   126