Page 118 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Kalbenos Tauros (Lucius Calvenus Taurus; auch: Calvisius Taurus, geb. um
               105 n. Chr.), das Geistesleben jener Epoche maßgeblich prägte, begegnete
               Gellius tagsüber den bedeutendsten Gelehrten und Philosophen seiner Zeit.
               In den durchwachten Nächten hielt der begeisterte Bildungsreisende seine
               vielfältigen Anregungen und intensiven Erlebnisse in Notizhefen für die
               Nachwelt fest. Diese Verfahrensweise gab auch der literarischen Gattung
               ihren ursprünglichen Namen, commentarii oder altgriech. hypomnémata.
               Später ging eine solche Sammlung von Anekdoten, Literaturzitaten, Wort- und
               Sacherklärungen − protokollierten Streitgesprächen, erzählerisch umrahmten
               Sentenzen und Weisheiten als sogenannte antiquarische Literatur oder ›Bunt-
               schriftstellerei‹ in die Literaturgeschichte ein.

                  Für die Wiederentdeckung der Antike in Renaissance und Humanismus
               spielte das Sammelwerk des Aulus Gellius eine kaum zu überschätzende Rolle.
               Im Unterschied zu der reichen Handschriftenüberlieferung der mittelalterlichen
               Kopisten zitierte Gellius die griechischen und römischen Klassiker nämlich
               im Original und dabei vergleichsweise genau und zuverlässig. Im Grunde
               kann Gellius damit sogar als Vater einer annähernd exakten Zitationsweise
               im modernen Sinne gelten. Zahlreiche Autoren und Werke der römischen und
               griechischen Literatur verdanken ihre materielle Überlieferung dem kompilato-
               rischen Fleiß und der schier unerschöpflichen Sammelwut des großen Römers.

               Viele vergessene oder verschollene Werke und Textfragmente überlebten im
               kulturellen Gedächtnis nur dank Gellius. Dies gilt vor allem für die großen
               griechischen Fragmentisten, von denen wir heute − vor diesem Hintergrund
               also keineswegs selbstverständlich − zuverlässige Ausgaben besitzen.



                  Aber nicht nur inhaltlich, auch formal schrieb Gellius Literatur- und
               Wissenschaftsgeschichte. So begründete er neben seiner Vorrede zu den
               Attischen Nächten das Prinzip eines stichwortartigen Inhaltsverzeichnisses
               (Index capitum), das er seinem vielschichtigen Textkonvolut voranstellte.
               Dies geschah nicht nur, um den Überblick zu erleichtern, sondern auch,
               um seinen Lesern das nur durch punktuelles Interesse geleitete ›Blättern‹
               oder ›Nachschlagen‹ zu ermöglichen. Altertumsforscher vermuten sogar,
               dass es Gellius’ chaotische Kompilationstechnik war, die das indexierende
               Ordnungsprinzip des Registers hervorbrachte, ein Ordnungssystem, das
               heute zum Standard einer wissenschaftlichen Buchpublikation gehört. Mit
               dem Inhaltsverzeichnis war zugleich das Nachschlagewerk geboren. Damit



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