Page 119 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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knüpfte Gellius an ein großes Vorbild an, Plinius den Älteren (23-79 n. Chr.),
den Vater der abendländischen Lexikografie, dessen Naturalis historia als
Mutter aller Enzyklopädien gilt. Auch die Überlieferungsgeschichte von
Gellius’ Epochenwerk ist sensationell. So geht die Pergamenthandschrift A
der Noctes Atticae − überliefert als Palimpsest einer Handschrift des Alten
Testaments aus dem 7. bis 8. Jahrhundert n. Chr. − auf das 4. nachchristliche
Jahrhundert zurück. Dieser Textzeuge ist damit eine der ältesten Pergament-
kodizes, der aus der abendländischen Antike auf uns gekommen ist und heute
in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrt wird. Einige der schönsten
und bedeutendsten Beispiele für die Überlieferung des Gellius-Textes in
Mittelalter und Renaissance bilden prächtig illuminierte Handschriften wie
der Codex der berühmten ungarischen Bibliotheca Corviniana (Corvina;
Ker 375, datiert auf ca. 1472) oder die Handschrift der Sammlung Burney im
British Museum bzw. in der British Library (Burney 174). Ganz zu schweigen
von der Druckgeschichte des Werkes. Sie würde ein eigenes Kapitel füllen.
Aulus Gellius lebte von etwa 122/125-128 bis 180 oder 200 n. Chr. Seine
Lebens- und Schaffenszeit fiel in eine Phase der römischen Kaiserzeit, die
als einer der interessantesten Zeitabschnitte der westlichen Spätantike gelten
kann. Die Schilderungen des Gellius dokumentieren die erstaunlich ›modern‹
anmutende Lebendigkeit des damaligen kulturellen Lebens. Trotz großer
politischer und militärischer Anfechtungen an der Peripherie des römischen
Weltreiches orientierte man sich im Bildungswesen an einer griechisch-
lateinischen Zweisprachigkeit. Dies galt zumindest für die Angehörigen der
höheren Schichten. Die Attischen Nächte spiegeln diese Bilingualität auf jeder
zweiten Buchseite. Wörter, Aussprüche, Sentenzen und ganze Geschichten
werden mitten im lateinischen Text − oft ohne Übersetzung oder Paraphrase −
in Altgriechisch wiedergegeben und minutiös interpretiert und erläutert. Diese
anspruchsvolle Verfahrensweise bildete ein Gegengewicht zum kulturellen
Ansturm der barbarischen Sprachen und Kulturen an den Außengrenzen des
Imperiums.
Die bildungsbeflissene Liebe zur griechischen Sprache und Kultur bescherte
der römischen Philosophie, Literatur und Kultur eine einzigartige Blüte. Neben
Favorinus von Arelate (Arles), einem der wichtigsten Lehrer des jungen Gellius,
entfalteteten so bedeutende Rhetoren und Mäzene wie Herodes Atticus (101
bis um 177 n. Chr.) oder Philosophen wie der Kyniker Peregrinus Proteus
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