Page 122 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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seinem Grabe wiederauferstehen werde, um als Richter in einem sprachli-
               chen Zweifelsfall für ein kanonisches Urteil zu sorgen, fällt die letztgültige
               Entscheidung an Cornelius Fronto. Der schließt die Debatte mit dem berühmt
               gewordenen Diktum über die klassischen Autoren als für die Anwesenden
               zu konsultierende Richtschnur (vgl. Zitat, Erläuterung und Übersetzung auf
               S. 99f.). Orakelgleich betont der römische Literaturpapst aber im gleichen
               Atemzug, dass die für die Regelung sprachlicher Quisquilien aufgewendete
               Zeit stets mit ihrem praktischen Nutzen abzuwägen sei. Dieser Zusammenhang
               ist wichtig, um die ironisch gebrochene Anbahnung des Begriffs →klassisch
               (classicus) zu verstehen.



                                          Literaturpapst


                  Im heutigen Sprachgebrauch bezieht sich die Metapher zumeist auf Marcel
               Reich-Ranicki, geboren 1920 als Marcel Reich im polnischen Włocławek. Sie
               kennzeichnet die einzigartige Rangstellung, die Reich-Ranicki jahrzehntelang
               als Literaturkritiker (Die Zeit; 1960-73) und Feuilletonchef der Frankfurter
               Allgemeinen Zeitung (1973-88) im westdeutschen Literaturbetrieb innehatte.
               Das Wort vom ›Literaturpapst‹ als quasi exklusiver Beiname von Marcel
               Reich-Ranicki barg stets auch negative Nuancen. So zielte der Begriff unter-
               schwellig auch auf den literarischen ›Scharfrichter‹ oder gar ›Zensor‹. Denn
               die Wertungen Ranickis erschienen vielen als überaus subjektiv und waren
               oftmals um stritten. Gerade in ihrem apodiktischen Gestus jedoch galten sie als
               unverrück bar. Es war über viele Jahrzehnte also gerade Ranickis permanente
               Umstrittenheit, die so unumstritten galt. Für die bildungsgläubigen Leser besaß
               die Stimme ihres ›Kritikervaters‹ wiederum geradezu kanonisches Gewicht.
               So können Ranickis publizistische Projekte wie die Frankfurter Anthologie
               oder seine 50-bändige Literaturauswahl Der Kanon (2002-2006) vor dem
               Hintergrund eines mehrschichtigen Kanonbegriffs gelesen werden. Ranik-
               kis Erfolgsrezept basierte zum einen auf dem verbindlichen Stilkanon eines
               bürgerlich-konservativen Literaturgeschmacks, der in etwa von Goethe bis
               Thomas Mann reichte. Zum anderen aber beruhte es auf einem unverwechsel-
               baren Kanonisierungsstil, also der Idio synkrasie seines typischen Sprechens
               und Schreibens über Literatur. Dieser vielparodierte Stil Ranickis wurde durch
               seine regelmäßigen Fernsehauftritte im Rahmen der Sendung Literarisches
               Quartett vollends berühmt. Stimme, Gesichtsausdruck, Gestik, Ausdrucks-



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