Page 124 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Auszeichnungen gelangen Autorinnen und Autoren der deutschen Gegenwarts-
               literatur in der Regel in die Lesebücher an Schulen oder die thematischen
               Lehrpläne der Germanistik. Abgesehen von der grundsätzlichen Subjektivität
               von Juryentscheidungen bieten bereits die Ausschreibungstexte vieler Preise
               aufschlussreiche Belege für die Tatsache, dass dabei nicht immer - mög-
               licherweise sogar erstaunlich selten - ästhetische oder im engeren Sinne
               literarische Auswahl kriterien im Vordergrund stehen. So heißt es etwa in der
               Satzung des wichtigsten deutschen Literaturpreises, dem Georg-Büchner-
               Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt: »Zur
               Verleihung können Schriftsteller und Dichter vorgeschlagen werden, […] die
               an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen
               Anteil haben.« (Fassung vom 21.3.1958) Was immer das auch heißen mag
               − ein eindeutiges Kriterium für literarische Originalität oder eine außeror-
               dentliche künstlerische Leistung bildet diese Anforderung jedenfalls nicht.
               Die Kriterienkataloge von Wett bewerben zur sogenannten Netzliteratur setzen
               diese Tendenz zur nicht literarischen Bewertung fort. So legte die Jury des
               Wettbewerbs Literatur.digital, veranstaltet von T-Online (Deutsche Telekom)
               in Ko operation mit dem Deutschen Taschenbuch Verlag im Jahr 2001, ihrer
               Preis vergabe folgende Bewertungskriterien zugrunde, die ganz überwiegend
               − bis auf den letzten Aspekt − diesseits (oder jenseits) der eigentlichen lite-
               rarischen Textqualität angesiedelt waren:

                  »1. Innovationskraft des Werkes, 2. Linksemantik, Benutzerfreundlichkeit, Inter-
                  aktivität, 3. Bildschirmästhetik, 4. Multimedialität und 5. Textqualität« (zitiert
                  nach Gendolla, in: Arnold 2002, S. 96)




                                           Meisterwerk


                  Das Grimmsche Wörterbuch kennt noch die ältere Be deutung des Wortes
               ›Meisterwerk‹ im Sinne von »arbeit eines handwerks meisters« (Deutsches
               Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1983; Bedeutung Nr. 2). Vor diesem Hintergrund ist
               die bis heute geläufige Hauptbedeutung zu verstehen: »werk eines meisters,
               vorzügliches, kunstvollendetes werk« (ebd., Bedeutung Nr. 1). Die ursprüng-
               lich sehr konkrete Vorstellung manifestiert sich in der seit dem 18. Jahrhun-
               dert häufigsten Verwendung als ›meisterhaftes Werk der bildenden Kunst‹,

               vor allem mit Blick auf ein Gemälde von Meisterhand. Der Ursprung des



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