Page 116 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Produktion von Büchern und Druckwerken. Eine durchgreifende Rationalisie-
               rung im Druckwesen und die Modernisierung der Typografie machte dieses
               Bücher- und Schriftenwachstum überhaupt erst möglich. Vor allem Frankreich
               und die Niederlande waren Ausgangspunkte dieser Innovationen. Befördert
               wurde diese Entwicklung durch die Einrichtung allgemein zugänglicher
               (›öffentlicher‹) Bibliotheken und die Gründung von sogenannten Lesegesell-
               schaften. Damit schufen die Anhänger der Aufklärung aus Adel, Bürgertum
               und Geistlichkeit eine erste Vorform heutiger Leihbibliotheken, verbreiteten
               die Buch- und Lesekultur und festigten damit das Fundament der bürgerlichen
               Gesellschaft. Zugleich kam es zu einer sprunghaften Ausdifferenzierung des
               literarischen Zeitschriftenmarktes. Das erweiterte Spektrum reichte dabei
               vom Almanach über den ›Damenkalender‹ und literarische Anthologien bis
               zu den anspruchsvollen Zeitschriften der Weimarer Klassiker und Frühro-
               mantiker (Die Horen von Goethe und Schiller; Athenaeum, Concordia oder
               Europa der Brüder August und Wilhelm Schlegel). Oftmals erwiesen sich
               diese Projekte zwar als publizistische Eintagsfliegen (so z. B. die Zeitschrift
               Iduna von Hölderlin). Doch beflügelte diese aufkeimende Vielfalt publizi-
               stischer Organe die Zirkulation von Informationen, Ideen und Meinungen.
               Finanziell möglich machte dies die Subskription als revolutionäres System
               der verlegerischen Kostenkalkulation. Autoren und Verleger versicherten sich
               dadurch vor Drucklegung durch vertragliche ›Unterschrift‹ der käuflichen

               Abnahme einer festgelegten und damit garantierten Anzahl von Druckexem-
               plaren. Damit konnten kleinere und Kleinstauflagen im Voraus durchkalkuliert
               werden. Zuweilen erfolgten auch finanzielle Vorleistungen der Subskribenten.
               Zudem entstand zum Jahrhundertende eine der wichtigsten Institutionen der
               bürgerlichen Öffentlichkeit, die Tageszeitung. In der zweiten Lebenshälfte
               sollte Goethe ein eifriger Leser der Tagespresse seiner Zeit werden. Der
               Kommunikationswissenschaftler Hansjürgen Koschwitz erkennt gar einen
               »stürmische[n] Aufwärtstrend des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens jener
               [zweiten] Jahrhunderthälfte« und bezeichnet diese epochalen Entwicklungen
               als »Leserevolution« (Wider das ›Journal- und Tageblattsverzeddeln‹. Goethes
               Pressesicht und Pressenutzung, 2002, S. 20 bzw. 21, Anm. Nr. 4)












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