Page 125 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Wortes im handwerklichen Bereich spiegelt sich dabei in der historischen
               Tatsache, dass die Künstler der Renaissance und des Barock in der Regel
               ihre eigenen Werkstätten, also Maler- oder Bildhauerschulen begründeten,
               in denen Zeichnungen, Gemälde und Skulpturen nach ihren Vorgaben von
               Gehilfen und Schülern angefertigt wurden. So verwendet auch Goethe das
               Wort Meisterwerk noch überwiegend mit Bezug auf die Werke der großen
               Meister in der Malerei. Dabei entsteht eine semantische Spannung zwischen
               der Valenz ›kunsthandwerkliche Gemachtheit‹ und der Bedeutung ›einzig-
               artiges, vollkommenes Kunstwerk‹, das in seiner Genialität ja gerade alles
               Physisch-Materielle transzendiert:

                  »Denn vollendet bringt ein groß gedachtes Meisterwerk erst jene Wirkung hervor,
                  welche der außerordentliche Geist beabsichtigte: das Ungeheure faßlich zu
                  ma chen.« (Weimarer Ausg., I. Abt., Bd. 34.1, 1902, S. 81).


                  Seinen Aufsatz über die Kopie eines Nachstichs von Raffaels Gemälde
               »Christus und die zwölf Apostel« beginnt Goethe mit den Worten:

                  »Indem wir die Meisterwerke Raphaels bewundern, bemerken wir gar leicht eine
                  höchst glückliche Erfindung und eine dem Gedanken ganz gemäße, bequeme und
                  leichte Ausführung. Wenn wir jenes einem glücklichen Naturell zuschreiben, so
                  sehen wir in diesem einen durch vieles Nachdenken geübten Geschmack und eine
                  durch anhaltende Übung unter den Augen großer Meister erlangte Kunstfertigkeit.«
                  (Weimarer Ausg., I. Abt., Bd. 47, 1896, S. 227)

                  Da sich die akademische Malerei in Europa seit der Renaissance fast aus-
               schließlich mit mythisch-sakralen und christlichen Gegenständen befasste,
               existiert eine generische Nähe der Vorstellung vom bildkünstlerischen Meister-
               werk zum theologischen Kanonkonzept. So lautet ein unverwechselbarer
               Ausruf des jungen Friedrich Schiller:


                  »Beuge dich nieder, o Mensch! erkenn die Würde der Weisheit! durch sie umfaßt
                  dein gottgeadelter Geist das Meisterwerk Gottes; durch sie durchdringst du des
                  Schöpfers erhabenen Plan [...]!« (Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, hg. von
                  W. Riedel, 5. Bd. ( 2008): Karlsschulschriften, S. 248)
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                  In der klassischen Kunsttheorie der Goethezeit wurden Bildschöpfer
               und Welten schöpfer gerne in eins gesetzt oder zumindest verglichen. Das
               Meister werk im literarischen Sinne ist natürlich auch Goethe und Schiller
               schon bekannt. So spricht Goethe von den »orientalischen Meisterwerken«,



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