Page 123 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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und Sprechweise entwickelten sich zum Marken zeichen des amtierenden
               deutschen Literaturpapstes. Das Phänomen Reich-Ranicki lässt sich auch
               als trivialisierende Kreuzung überkommener Kanon valenzen beschreiben.
               Im Bereich des Literarischen − also in der Frage, was lesenswerte Literatur

               sei − kanonisiert Ranicki im theologischen Sinne, indem er einen Kanon ihm
               quasi heiliger Gattungsbeispiele predigt. Auf der Ebene der theologischen
               Verkündigung − also beim ›Predigen‹ seiner absoluten Wert urteile und genüß-
               lichen Verrisse − stilisiert er sich umgekehrt auf literarische Weise, indem
               er in die Rollen mal des allwissenden Schelms, mal des mephistophelischen
               Teufels schlüpft und diese fiktiven Rollen so poetisch wie polemisch ausmalt.
               Allerdings blieb ein solches ›Pontifikat‹ auf dem Feld der Literatur kritik immer
               ein Widerspruch in sich. Denn mit der Erfindung des Romans als Leitgattung
               der Moderne entsprang die neuzeitliche Literatur bekanntlich eben jener
               Aufklärungsbewegung, die das Ende der gesellschaftlichen Vorherrschaft
               von Theologie und katholischer Kirche einläutete.

                  Im Übrigen hatte Ranicki schon prominente Vorläufer. Als rigoroser
               Ver fechter des französischen Klassizismus und Verfasser einer Regelpoetik
               unter dem Titel Versuch einer critischen Dichtkunst (1730) galt auch Johann
               Christoph Gottsched (1700-1766) als »Leipziger« und sogar »deutscher
               Literatur papst«. Schließlich wurden Literaturkritiker des 19. und frühen
               20. Jahrhunderts wie Wolfgang Menzel (1798-1873), Rudolf Gottschall
               (1823-1909) oder Adolf Bartels (1862-1945) aus der Rückschau ebenfalls so
               betitelt. Gustav Freytag (1816-1895) verkörperte den seltenen Fall − neben
               Martin Opitz oder auch Christoph Martin Wieland − dass einem arrivierten

               Dichter das Etikett ›Literaturpapst‹ zuteil wurde. Als antiker Vorläufer der
               modernen Vorstellung kann auch der römische Rhetor Marcus Cornelius Fronto
               gelten, der im 2. nachchristlichen Jahrhundert den Ruf eines allwissenden
               Orakels für alle Fragen der lateinischen Sprache und Literatur genoss.




                                          Literaturpreise

                  Eine wichtige Kanoninstanz stellen die nationalen und internationalen
               Literatur wettbewerbe und Literaturpreise dar. Denn oftmals markiert ein
               Preis den eigentlichen Startpunkt einer literarischen Karriere. Erst über den
               entsprechenden Literaturpreis oder die Kumulation mehrerer renommierter



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