Page 120 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 120
(um 100 bis 165 n. Chr.) ihren Einfluss auf den damaligen Zeitgeist. Tacitus
und Plutarch wirkten auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung, Galen im
Bereich der Medizin, und Ptolemaios schuf sein geografisches Werk. In etwa
zur gleichen Zeit blühte die rhetorische Schule der sogenannten Zweiten
Sophistik. Dabei handelte es sich um eine Art römischer Aufklärung, die sich
in der Tradition und Nachfolge der berühmten (ersten) griechischen Sophi-
stik im 5. vorchristlichen Jahrhundert sah. Große Satiriker und Mythografen
wie Apuleius von Madaura (um 123 bis wohl nach 170 n. Chr.) oder Lukian
von Samosata (um 120 bis nach 180 oder um 200 n. Chr.) waren ebenfalls
Vertreter dieser außerordentlichen Blütezeit. Schließlich betraten die ersten
christlichen Schriftsteller die Bühne der europäischen Geistesgeschichte, wie
etwa Clemens von Alexandria (um 150 bis um 215 n. Chr.) oder Tertullian
(um 150 bis um 230 n. Chr.).
Neben schriftstellerischen Innovationen brachte diese Epoche weitere
Erstaunlichkeiten hervor. So zitiert Gellius in seinen Schilderungen der
besuchten Gastgelage und Gelehrtenzirkel die ersten »Konzertredner« oder
»Hydeparkredner« (H. Berthold) des Abendlandes. Diese Figuren könnten
gut und gerne als Vorläufer der Akteure in modernen Talk Shows oder Fern-
sehsendungen wie Das Literarische Quartett gelten. Methodisch bediente
sich Gellius zudem des Kunstgriffs der rhetorischen Wissensfrage, die man
als frühe Form der Quizfrage verstehen kann. Dies geschah innerhalb eines
ganzen Konzerts von sprachlichen, stilistischen und methodischen Mitteln, um
komplexe Sachverhalte erzählerisch anschaulich zu machen, sie anekdotisch
auszuschmücken oder bildhaft zu pointieren. Didaktisierung des Wissens,
Popularisierung von hoher Literatur, Demokratisierung von Gelehrtenwissen
(z. B. im Bereich von rechtlichen Präzedenzfällen oder Rechtsirrtümern),
Aufklärung und Bildungsbewusstsein − in all diesen Aspekten kann die Aure-
linaische Epoche mit Fug und Recht als ein antiker Vorläufer der westlichen
Moderne aufgefasst werden.
Die für das Kanon- und Klassikerthema wichtigste Begegnung mit Frontos
Autorität und Brillanz schildert Gellius im 8. Kapitel seines XIX. Buches. Noch
vor seinem Aufbruch nach Athen konsultiert Gellius die Gelehrtentreffen um
Marcus Cornelius Fronto in Rom. Im Kreise bedeutender Philosophen und
Dichter wurden dabei anspruchsvolle Bildungs- und Sprachprobleme erörtert.
Gemäß Frontos Auffassung fungierten in erster Linie die ›alten Autoren‹ als
116