Page 127 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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sich nach Friedrich Rückert (1788-1866) oder Goethe mit diesem vergessenen
Teil der Weltliteratur populärwissenschaftlich beschäftigten. So verdanken
wir Raoul Schrott die Übersetzung fünf ausgewählter Mo’allaqāt in modernes
Hochdeutsch (Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend
Jahren, Frankfurt/Main 1998, S. 211-266).
Nach der Zäsur durch den 11. September 2001 kam es in den Ölscheich-
tümern am Persischen Golf zur Wiedergeburt einer jahrhundertealten lite-
rarischen Pra xis, die sich an der Schnittstelle zwischen westlicher Medien-
gesellschaft und einheimischer Kulturpflege abspielte. Poesie-Wettstreite
wurden in öffentlicher Sitzung veranstaltet und vom landeseigenen Fernsehen
übertragen. Junge Araber rezitierten dabei die Nomadenlyrik ihrer Vorväter.
All dies wurde (und wird) via Satellit in die ganze Welt übertragen. Vortrags-
weise und Textinhalt bleiben für den westlichen Zuschauer zwar selbst bei
minutiöser Übersetzung schwer verständlich. Die nationale Beteiligung sowie
die Zuschauer quoten übertrafen und übertreffen jedoch jegliche Erwartung.
Die Rezeption der Moderne in Gestalt westlich geprägter Technologien und
Mediengewohnheiten führt in diesem Fall zu einer neuen Form der Selbst-
wahrnehmung einer orien talischen Kultur (»Al-Dschasira-Phänomen«).
Durch die Teilhabe an einer Errungenschaft der westlichen Aufklärung
vollzieht sich eine neue Form der indigenen Selbstwahrnehmung. In diesem
Fall handelt es sich dabei aus gerechnet um die vormoderne, aber auch vor-
islamische Nomaden- und Hirten poesie der saudiarabischen Halbinsel. Aus
kanontheoretischer Sicht verspricht diese Globalisierung kultureller Univer-
salien − Lyrik als literarische Form, die poetische Kultivierung der erotischen
Liebe − enorme Entwicklungschancen für die Weltkultur in diesem Teil der
Erde. Denn die Steigerung der Selbst wertschätzung einer Kultur vermag
möglicherweise destruktiven Tendenzen entgegenzuwirken, wie sie religiöser
Funda mentalismus und radikaler Islamismus in dieser Weltregion darstellen.
Musenhof (Weimarer Musenhof)
Auf die Goethe-Philologie des 19. Jahrhunderts zurückgehende Stilisie-
rung des Phänomens ›klassisches Weimar‹ (Wachsmuth 1848; Bode 1918;
s. Bibliografie, unter Punkt B.III), gemäß moderner literaturwissenschaftlicher
Terminologie korrekt im Sinne von →Weimarer Klassik. Im Mittelpunkt
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