Page 130 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Orchideenfach


                  Bildkräftiger Ausdruck, der ein sogenanntes kleines Universitätsfach
               bezeichnet. Ein ›kleines‹ Fach ist eine wissenschaftliche Diszi plin, die an
               einer deutschen Universität mit einer vergleichsweise geringen personellen
               und institutionellen Ausstattung gelehrt wird und die in der Regel nur eine
               sehr über schaubare Zahl von Studierenden anzieht. Das sagt allerdings nichts
               aus über die tatsächliche Bedeutung der Gegenstandsbereiche von kleinen
               Fächern. Man denke nur an ein Beispiel wie die Altorientalistik. Ohne den
               maßgeblichen Einfluss des Nahen und Mittleren Ostens auf die Geschichte

               Europas erscheint die Kultur des Abendlands (als ›Okzident‹) kaum denkbar. In
               erster Linie zielt die Bezeichnung ›Orchideenfach‹ auf die seltener studierten
               geisteswissenschaftlichen Fächer, insbesondere die exotischen Philologien,
               wie z. B. die Afrikanistik, Ägyptologie, Byzantinistik, Indologie, Lusitanistik
               oder Turkologie. Das blumige Vergleichswort bezieht sich im Übrigen auf
               eine der arten reichsten und formschönsten Pflanzenfamilien der Welt − mit
               einigen der seltensten Arten überhaupt. Mit an Sicherheit grenzender Wahr-
               scheinlichkeit geht die Wortprägung auf einen philologisch geschulten Urheber
               zurückgeht. Man denke nur an die vielbemühte ›blaue Blume‹ der Romantik
               und andere poetische Blumenvergleiche. Die auf Initiative des Bundesministe-
               riums für Bildung und Forschung (BMBF) in Ko operation mit der deutschen
               Hochschulrektorenkonferenz (HRK) an der Universität Potsdam begründete
               ›Arbeitsstelle Kleine Fächer‹ hat das poetische Wort vom verträumten Orchi-
               deenfach modernisiert. Demgemäß wird das Konzept vom Kleinen Fach heute
               viel weiter ge fasst, indem es im Grunde alle Bereiche akademischer Lehre
               und Forschung durchzieht (s. Bibliografie, unter Punkt D). Kleine Fächer gibt

               es inzwischen auch längst unter den Natur- und Technikwissenschaften. So
               zäh len im Potsdamer Fächerkatalog neben klassischen Orchideenfächern wie
               Indo germanistik oder Judaistik nicht nur Astronomie und Computerlinguistik,
               sondern auch Kristallografie, Metallurgie, Meteorologie, Mineralogie oder
               Schiffstechnik zu diesem neuen Kanon der Kleinen Fächer. Sogar Schwer-
               gewichte wie die Alte Geschichte oder breitenwirksame Newcomer wie die
               Gender Studies rechnen die Potsdamer Fächerforscher dazu. Hinzu kommen
               kryptische Neu zugänge wie z. B. die »Translatologie«. Gemeint ist wohl die
               wissenschaftliche Erforschung und Lehre von der sprachlichen Übersetzung.







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