Page 132 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Hoch- und Spätromantik sowie den Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts,
               der eng mit der Rezeption der  Gedanken und Schriften Johann Gottfried Herders
               (1744-1803) verbunden war. Auch den Irrationalismus und Nihilismus eines
               Friedrich Nietzsche rechnen die Autoren zu diesem prekären Geistessubstrat,
               das in Spuren elementen nicht nur in den totalitären Ideologien des 20. Jahrhun-
               derts fortlebte, sondern auch den isolationistischen Staatshintoismus in Japan
               beeinflusste. Sogar für den terroristischen Islamismus unserer Zeit erkennen die
               Autoren im Okzidentalismus einen fruchtbaren Nährboden. Das Phänomen des
               Imports westlicher Ideologien und Denkströmungen von Kulturen außerhalb
               der west lichen Hemisphäre hatte S. Ph. Huntington bereits in seinem Clash of
               Civilizations (1993/96) detalliert beschrieben. Die pointierte Begriffsprägung
               vom Okzidentalismus als Orientalismus unter umgekehrten Vorzeichen nahm
               Huntington dabei jedoch noch nicht vorweg (vgl. Huntington 2006/07, S. 119-
               156: Kapitel 4: »Das Verblassen des Westens: Macht, Kultur, Indigenisierung«;
               s. dazu auch das Unterkapitel »La Revanche de Dieu«, ebd., S. 145ff., besonders
               S. 153f.).



                                        »Originalgeister«


                  In seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771) skizziert der
               Ästhetiker Johann Georg Sulzer unter dem Stichworteintrag »Originalgeist
               (Schöne Künste.)« einen Kanon von nicht ganz zwei Dutzend bedeutenden
               Namen aus der Kultur- und Literaturgeschichte, die er als »Originalgeister«
               bezeichnet. Für Malerei und bildende Kunst benennt er Raffael und William
               Hogarth, für die Musik den heute fast vergessenen Komponisten und Sänger
               Carl Heinrich Graun (1704-1759). Neben Horaz und Vergil gilt Sulzer zufolge
               nur noch der Fabeldichter Aesop als ›originaler‹ Geist der lateinischen Antike.
               Mit Blick auf die zeitgenössische Literatur nennt er Crebillon, Diderot, Jean
               da La Fontaine, Montesquieu, Rousseau und Voltaire (für Frankreich) − sowie
               Samuel Butler, Richardson, Swift und Sterne (für England). ›Originalgeister‹
               der deutschen ›Literatur‹ sind ihm Luther, Bodmer, Breitinger und Klopstock.
               Insgesamt 21 Autoren erklärt Sulzer für kanonwürdig. Damit praktiziert er eine
               erratische Auswahl, die keinerlei Symmetrie oder Zahlenschema verpflichtet
               scheint. Sulzer geht zunächst vom bildenden Künstler als Idealtypus des Ori-
               ginalgeists aus, um sodann psychologisierend wie folgt zu verallgemeinern:





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