Page 131 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Neben die Kanonisierung von Wissen (»was ist Fakt, was ist wahr?«) tritt
nicht nur die ästhetisch wertende Kanonbildung, etwa im künstlerischen oder
literarischen Bereich (»was ist gut oder was ist schön?«). Um Sprachen, Wis-
sensbestände und Kunstwerke oder Texte im Gedächntis zu bewahren, bedarf
es eines hochgradig aus differenzierten akademischen Fächerspektrums. Die
moderne Fächervielfalt ist geschichtlich im Übrigen noch sehr jung. Mutter
dieser geistigen Modernisierung des Bildungswesens ist die französische
Aufklärung. So schufen Diderot und D’Alembert mit Aufbau und Struktur der
Encyclopédie sowie mit den noch unmittelbar von ihnen selbst ver antworteten
Nachfolge- und Spezial-Nachschlagewerken (Encyclopédie méthodique u. a.)
das maßgebliche Muster für die spätere Ausdifferenzierung der Wissenschaf-
ten, wie sie für uns heute selbstverständlich erscheint.
›Orientalismus‹
Auf die gleichnamige Schrift (Orientalism, 1978) des amerikanisch-palä-
stinensischen Politologen Edward Wadie Said (eigentlich Saïd; 1935-2003)
zurückgehender Begriff, der in polemisch-kritischer Absicht das tendentiöse
Orientbild bezeich net, das sich Europa und der Westen im Verlaufe der neueren
Geschichte gebildet haben. Said zufolge fußt die westliche Orientvorstellung
auf elementaren Verkürzungen. Aber auch projektive Wünsche und Sehnsüchte
beeinträchtigen dem Autor zufolge seit Menschengedenken den nüchternen
Blick des ›Westens‹ auf den Osten. Allerdings differenziert Said, indem er
z. B. die deutschsprachige Orientalistik des 19. Jahrhunderts bis zu einem
gewissen Grade vom Vorwurf der Beeinträchigung durch eine ›orientalistische‹
Sichtweise ausnimmt.
Saids Begriff hat zu echohaften Wortbildungen angeregt, so z. B. im Begriff
des ›Okzidentalismus‹ (Ian Buruma, Avishai Margalit: Occidentalism. The West
in the Eyes of Its Enemies, New York 2004; deutsch als: Okzidentalismus. Der
Westen in den Augen seiner Feinde. Aus dem Englischen von Andreas Wir-
thensohn, München 2004, S. 9-19, insbesondere S. 13f.). Genau genommen
handelt es sich dabei um eine analoge Ableitung mit umgekehrter Zielrichtung.
Okzidentalismus meint das fortschritts skeptische und zivilisationskritische, im
Kern antiwestliche Gedankengut, das mit der Geburt der westlichen Moderne
einherging. Buruma und Margalit benennen die Aufklärungsfeindlichkeit der
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