Page 135 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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dem Einfluss von kommerziell optimierten Werbe angeboten und sogenannten
Linkfarmen entgegen. Diese besonders wert geschätzten Dokumente werden
als sogenannte »Seed Pages« (›Saatseiten‹) eingestuft, die ihre Vertrauenswür-
digkeit über ausgehende bzw. eingehende Verweise (outlinks bzw. backlinks)
weitervererben können. In gewisser Weise handelt es sich dabei also um eine
mathematisierte und technisch operationaliserte Form der →Kanonmetrik.
Plagiarismus
Von der Produktpiraterie im Wirtschaftsleben oder dem Wissenschaftsplagiat
unterscheidet sich das literarische Plagiat grundlegend. Plagiate in der Literatur
sind kein objektives Phänomen, sondern das Ergebnis von Kommuni kation
und sozialer Interaktion. Diese Einsicht geht auf eine grundlegende Studie
von Philipp Theisohn zurück (Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte,
Stuttgart 2009). Negative Plagiate existieren Theison zufolge allein aufgrund
von Plagiatsdebatten (ethischer Plagiarismus). Positive Plagiate, etwa als
Collage oder verwischtes Zitat sind dagegen das Produkt eines ästhetischen
Programms (ästhetischer Plagiarismus). Das Plagiat in der Literatur erweist
sich immer auch als ein Spiel mit dem Kanon. Mit Blick auf Moral, Urheber-
recht oder Geschmack vergegenwärtigt literarischer Plagiarismus zudem die
historische Gebundenheit menschlicher Werthaltungen und Werthandlungen.
Dies etwa mit Blick auf die noch vergleichsweise junge Autonomie-Vorstel-
lung vom literarischen Künstler und ›seinem‹ Werk im Unterschied zum
vororiginalen Werkbegriff, wie er noch in den Skriptorien des Mittelalters
vorherrschte oder in den Malerschulen der Renaissance. Auch vormoderne
Überlieferungstechniken wie die Kompilation (das sorgfältig auswählende,
aber auch umfassende Abschreiben aus autoritativen Quellen) oder die kano-
nische Zitation vor Erfindung der exakten Philologie im 19. Jahrhundert sind
streng von Plagiarismus zu unterscheiden.
Kam es seit der Zeit um 1800 zur Herausbildung des Urheberrechts im
modernen Sinne, so erlebte das literarische Plagiat in der klassischen Moderne
eine un geahnte Wiedergeburt, so etwa im Dadaismus. In der Postmoderne
sollte der Autor sogar als authentischer Urheber verschwinden, und zwar
auf ästhetisch innovative Weise. Plagiarismus ist daher in der Literatur so
produktiv wie prekär. Das dokumentiert die juristische Betrugsdebatte um
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