Page 136 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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die Jungautorin Helene Hegemann (Jahrgang 1992) und  ihren im Jahr 2010
               publizierten Roman Axolotl Roadkill. Das Verhältnis zwischen kanonischem
               Autor und Plagiator erwies sich bereits in der römischen Antike als höchst
               ambivalent und sehr vielschichtig. So konnte Katharina Schickert eindrucks-
               voll belegen, wie dialektisch die Haltung klassischer lateinischer Dichter zu
               ihren unberufenen Nachahmern und ›Plagiatoren‹ angelegt war (Der Schutz
               literarischer Urheberschaft im Rom der klassischen Antike, Tübingen 2005).
               Schon die etymologische Herkunft des lateinischen Wortes signalisiert den
               Ernst der moralischen Entrüstung der Alten: lat. plagium heißt ursprünglich
               ›Menschenraub‹. Ein plagiarius ist also eigentlich ein ›Seelenverkäufer‹. In
               der römischen Vorstellungs welt galten, so Schickert, begabte Dichter als vatēs,
               Seher, die den Göttern durch die Musen stets näher standen als normale Sterb-
               liche. Sie verkörperten somit noch keine modernen Originalgenies. Dennoch
               wurde ihnen - ich referiere weiter nach Schickert - das dichterische Verdienst
               persönlich zugeschrieben und mit dem entsprechenden Nach ruhm vergolten.
               Die Oden eines Horaz, die Epen eines Ovid galten somit als geschützte Werke
               im Sinne eines ungeschriebenen Ehrenkodex’. Ein Urheber recht im streng
               juristischen Sinne existierte allerdings noch nicht. Wachsender Ruhm einzelner
               Werke rief jedoch zwangsläufig Unberufene auf den Plan, die be rühmte Verse
               oder Werkpassagen unbefugt übernahmen und als die ihren aus gaben. Über-
               spitzt könnte man sagen: Um Unsterblichkeit zu erlangen, mussten römische
               Dichter so populär werden, dass man sie auch vermehrt kopierte − was diese
               sich wiederum aus Ehrgründen aufs Heftigste verbaten. Der Plagiarismus war
               also ein inverser Maßstab für die Kanonizität eines Autors. Dies erinnert an
               moderne Phänomene. So basierte die Popularität des Literatur kritikers Marcel
               Reich-Ranicki auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit zeit weise hauptsächlich
               auf der Vielzahl seiner Parodisten.





















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