Page 155 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Versuche, die Weimarer Epoche um 1800 aus heutiger Sicht angemessen
zu definieren, sprechen auch übergreifend vom »klassisch-romantischen Stil«
als Charakteristikum einer entsprechend benannten »klassisch-romantischen
Periode« der neueren deutschen Literatur (vgl. z. B. Meier 2008; s. in der
Bibliografie unter Punkt B. I.). Die traditionelle Wahr nehmung der Weima-
rer Klassik blieb in der Vergangenheit oftmals auf das wohl berühmteste
›Quartett‹ oder ›Viergestirn‹ der deutschen Literatur fixiert. Dabei handelt
es sich im Kern um die Weimarer Lebensabschnitte und die literarischen
Gipfelleistungen von Christoph Martin Wieland (1733-1813), Johann Gott-
fried Herder (1744-1803), Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und
Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759-1805). Strenggenommen bleibt
das Epochenparadigma allerdings lediglich auf die literarischen Errungen-
schaften der Weimarer Klassik fixiert. Neuere Forschungen haben hingegen
gezeigt, dass die literaturbezogenen Spitzenleistungen in der thüringischen
Fürstenresidenz nicht isoliert betrachtet werden können. Vielmehr trug auch
der von Herzogin Anna Amalia (1739-1807) maßgeblich mitgeprägte Geist
von Weimar die Merkmale einer gelungenen Synthese von Musik, Kunst
und Literatur. Eine musikalische Blütezeit wird für Weimar zwar gemeinhin
erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt. So spricht man
mit Blick auf die Ära des Wirkens von Franz Liszt (1811-1886) und anderer
bedeutender Musiker gerne von Weimars ›Silbernem Zeitalter‹. Für den
musikalisch-literarischen Doppelcharakter der Weimarer Klassik um 1800
sprechen jedoch folgende Faktoren: die intensive musikalische Praxis an
den Weimarer Höfen; die un konventionelle künstlerische Selbstbetätigung
der (verwitwet) regierenden und später im Ruhestand musisch umtriebigen
Herzoginmutter Anna Amalia; das hochproduktive Opern- und Theaterle-
ben in Weimar sowie die Aktivitäten des sogenannten Liebhabertheaters im
unmittelbaren Umkreis Goethes. Das Liebhabertheater bestand aus einem
kleinen Kreis von Freunden und Vertrauten Goethes und Anna Amalias.
Standesgrenzen waren dabei sekundär. Ausschlaggebend für die Teilnahme
war allein die Liebe zur praktischen Theaterarbeit. So studierte man kleinere
und leichtere Stücke und Singspiele unter Goethes Anleitung ein. Probenarbeit
und Treffen fanden mal im bürgerlichen, mal im höfischen Ambiente statt.
Ein für die damalige Zeit – trotz des Erbes der Aufklärung – bemerkenswerter
Vorgang. Eine Herzogin fürstlichen Geblüts gewandete sich in Theaterko-
stüm und Maske. Eine (noch) amtierende Herzogin Anna Amalia dilettierte
im bürgerlichen Freundeskreis am zweimanualigen Cembalo und befleißigte
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