Page 100 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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           (Hyperion  entwickelt  darin  den  Begriff eines  Naturstaats,  der  den  Ausblick  auf
           den ästhetischen Staat im Athenerbrief vorbereitet).90
               Allein  im  Blick  auf  die  messianischen  Ideen,  die  in  der  Staatsdebatte  kur­

           sieren,  bleibt  festzustellen:  Hyperion  verkörpert  die  ikarische Position  des
           Geistmenschen,  der  das  Diktum  vom  „Gott  in  uns“  pneumatisch  interiorisiert
           und vehement  vor  der  blutbefleckten  Tat,  dem  skruppellosen  Freiheitsterror  im
           Namen  der  Nemesis,  der  Göttin  von  Rache,  Vergeltung  und  Strafe,  zurück­
           schreckt.  Alabanda  dagegen  exteriorisiert  seine  Reich-Gottes-Vorstellung,  indem
           er  sich  und  seine  messianisch  inspirierten  Partisanen  zu  „Boten  der  Nemesis“
           (KHA  II: 35,  ZZ.  16-17)  stilisiert,  also  zu  Vollziehern  einer  außerhalb  der
           menschlichen Einflußmöglichkeiten liegenden geschichtlichen Notwendigkeit. Im
           apokalyptischen Sendungsbewußtsein vereinigen sich also Exteriorisation und Ex-

           ternalisierung: der Glaube  an eine übergeschichtliche oder externe  Sinninstanz als
           Garantiemacht  revolutionären  Handelns und der Glaube,  die eigene  „Kraft“  und
           Gewaltfähigkeit,  das Reich  Gottes auf Erden schon hervorzubringen, quasi zu ex-

           ternalisieren. Zusammenfassend  lassen  sich  mit  einer  geringfügigen  Erweiterung
           der Terminologie Scholems drei messianische Denkfiguren unterscheiden:
               1.  die Interiorisation als  christliche Lehre von  der  Verinnerlichung der Er­

                  lösung;  das  Individuum  erwirbt  das  Seelenheil  für  sich  selbst  durch
                  Askese,  Buße,  Erziehung  und  Erkenntnis  (Gnosis,  paulinische  Pneu­
                  matik,  mittelalterliche  Mystik;  das  Projekt  der  „individuellen
                  Eschatologie“, Taubes  1991: 76);
               2.  die Exteriorisation als jüdische  Vorstellung der radikalen Singularität des

                  Erlösungsereignisses,  das  ohne  menschliches  Zutun  in  diese  Welt
                  einbricht;  durch  prophetische  Deutung  der  Zeichen  allein  kann  der
                  Mensch  die  kosmische  Katastrophe  erahnen  (jüdische  und  christliche
                  Apokalyptik, pietistischer Chiliasmus);

               3.  die  Extemalisierung  als  politisches  Projekt:  der  Mensch  kann  als  Aus­
                  erwählter  den  Offenbarungen  über  das  Ende  der  Welt  Vorarbeiten,
                  indem  er  verkündigend  und  kämpferisch  aktiv  wird.  Er  trägt  den
                  Gedanken  vom  Reich  Gottes  antizipierend  nach  außen  (chiliastische
                  Bewegungen  mit  aktionistischer  und  anarchistischer  Ausrichtung  in
                  Judentum   und    Christentum:   Zeloten,   Hussiten,   Sabbatianer,
                  Wiedertäufer;  das  Projekt  der  „universellen  Eschatologie“,  Taubes
                  1991: 76).





            90  Nicht zufällig verwendet Hyperion auch in seinem naturhaften Staatsentwurf das pneuma­
               tisch-mystische  Bild  von  „Kern“  und  „Hülse“,  in  dem  das  „Innere“  wesentlich  sei:  „Die
               rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat.  Er ist die Mauer um
               den Garten menschlicher Früchte und Blumen.“ (KHA II: 40, ZZ. 6-8)
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