Page 97 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 97
Rejudaisierung des Christlichen? 95
Das messianische Potential, das Judentum und Christentum im Kern teilen, hat
sich historisch in komplementärer Weise manifestiert: Der christliche Mil-
lenarismus des Mittelalters und der frühen Neuzeit brachte das jüdische Substrat
der messianischen Idee, wie sie noch bei den Synoptikern (z. B. bei Markus - vgl.
Taubes 1993: 67) und vor allem beim Johannes der Apokalypse fortleben, erst voll
zur geschichtlichen Entfaltung. Bedeutsame messianische Umsturzbewegugen wie
die Sabbatianer bildeten im Judentum eher die Ausnahme. Die Zahl der
christlichen Beispiele ist weitaus größer.
Umgekehrt fundierten Kabbala und jüdische Mystik die spekulativen Grund
lagen der Verinnerlichung, die das Schicksal von Diaspora und Exil dem
Judentum abnötigte. Dieser Komplementarität von geistigem Ursprungsort und
historischem Vollzugsmoment der messianischen Idee entspricht die polemische
Begriffsbildung. Dem Judaisierungsvorwurf an die Adresse von Chiliasten und Mil-
lenaristen entsprechend, vergröberte die rabbinische Orthodoxie umgekehrt die
sabbatianische Bewegung Zwis aufgrund ihrer häretischen Nähe zum Christentum
zur christianisierenden Häresie innerhalb des Judentums (vgl. Scholem 1968: 35).
Christliche Millenaristen und jüdische Sabbatianer schöpften gleichermaßen
aus einem mystisch-messianischen Geist zwischen Christentum und Judentum. In
diesem Kontinuum zwischen dem „restaurativen Messianismus“ der Rabbinen
und dem „spirituellen Messianismus“ der christlichen Kirchen verkörpert dieser
mystisch-messianische Komplex das Moment des „utopischen Messianismus“
(Scholem 1992: 109-118). Dieses utopische Element gefährdete Scholem zufolge in
letzter Konsequenz die Vertreter und Fundamente orthodoxer Positivität in bei
den Religionen.
Denn die Utopie vom Messiasreich als Ara und Ort der Herrschaftslosigkeit,
der anarche und des Erlöschens aller positiven Gebote und Dogmen, erschütterte
rabbinische wie kirchliche Othodoxien in ihren Grundfesten. In der jüdischen
Mystik drückte sich dieser Gegensatz zwischen rabbinisch-restaurativem und my
stisch-utopischem Messianismus darin aus, daß gegen die „Tora des Exils“ (also die
Gesetzespositivität der rabbinischen Autoritäten in Zeiten der Staatenlosigkeit)
eine „Tora der Erlösung“ ins Spiel gebracht wurde (Scholem 1992: 32). Wie bri
sant diese Spekulation auf eine neue oder andere Tora im Zeichen der
überwundenen oder „reinen Positivität“ für die jüdischen Autoritäten in Palästina
sein mußte, zeigen Gedanken wie der folgende, den Gershom Scholem als Kurz
formel des mystischen Messianismus zitiert:
Dann wird die reine Substanz der Tora offenbart und ihre äußere Schale abgeworfen.
(Scholem 1992: 33)
Die Bildlichkeit dieser Aussage erinnert an die pneumatische Metaphorik von
„Korn“, „Hülse“ und „Frucht“, wie sie schon betrachtet wurde (vgl. Jh 12, 24;
1 Kor 15, 35-49). Das Messiasreich hat dieser Vorstellung nach in einem Geistigen
sein Eigentliches, seinen Kern; des weiteren signalisiert das Abwerfen der Schale
des Alten und die Überwindung religiöser Autoritäten aber eine anti