Page 101 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Rejudaisierung des Christlichen? 99
Wieder vollzieht sich Hölderlins messianische Mythogenese: Im Bild von der
schicksalsmächtigen Nemesis mythisiert Hölderlin nicht nur das Prinzip von
Strafe und Vergeltung als geschichtsphilosophische Notwendigkeit - eine theo
retische Denkfigur, die er schon ganz früh in seinem Aufsatzfragment „Über den
Begriff der Strafe“ von 1795 entworfen hat (KHA II: 499-501; vgl. Burkert 1992).
Die Mythe als Namensprogramm der Nemesisbrüder evoziert auch die Tradition
der millenaristischen Revolutionsbewegungen, die im Schnittpunkt des jüdischen
und christlichen Messianismus ihren geistigen Ursprung genommen haben. Die
„Brüder der Nemesis“ sind gleichsam philhellenistische „Sabbatianer“.91 Alabanda
greift mit seinem herakleischen Enthusiasmus das aktionistische und anarchistische
Potential solcher messianischer Revolutionsbewegungen auf und führt es mit
seiner kriegerischen Metaphorik gegen Hyperions ikarische Weltferne ins Feld:
Was? vom Wurme soll der Gott abhängen? Der Gott in uns, dem die Unendlichkeit
zur Bahn sich öffnet, soll stehn und harren, bis der Wurm ihm aus dem Wege geht?
Nein! nein! Man fragt nicht, ob ihr wollt! Ihr wollt ja nie, ihr Knechte und Barbaren!
Euch will man auch nicht bessern, denn es ist umsonst! man will nur dafür sorgen,
daß ihr dem Siegeslauf der Menschheit aus dem Wege geht. O! zünde mir einer die
Fackel an, daß ich das Unkraut von der Heide brenne! die Mine bereite mir einer, daß
ich die trägen Klötze aus der Erde sprenge! (KHA II: 37, ZZ. 3-12 )
Damit ist die Wendung vom „Gott in uns“ in eine dialektische Spannweite zwi
schen pneumatischer Interiorisation (Hyperion) und aktionistischer
Exteriorisation gestellt (Alabanda, Nemesisbrüder). Hyperions Konfrontation mit
Alabanda und den „nemeischen“ Revolutionären verursacht seine erste große
Wandlung im Verlaufe des Romans: der naive Hyperion läßt sich mit den
abgebrühten Freunden Alabandas ein. Ein erster Schritt zur proteischen Identität
zum Ende der Handlung ist damit getan. Der „Ikarus“ Hyperion stürzt aus den
weltfremden Wolken der rein geistigen Orientierung, die seine Jugendzeit an der
Seite seines Lehrers Adamas kennzeichnete: „Ich war, wie aus den Wolken
gefallen.“ (KHA II: 41, ZZ. lf.) Die verschiedenen Metamorphosen Hyperions
spiegeln damit Hölderlins theologische-Wandlungen auf der literarischen Ebene.
Die kleinasiatische Landschaft und Inselwelt mit Smyrna als Zentrum von
Hyperions Wirken bietet damit nicht nur die Staffage für Hölderlins mythischen
und historischen Synkretismus: also Ionien als Wiege des Hellenismus und als
Brücke zwischen Griechenland und Asien; das türkisch besetzte Griechenland ist
nicht nur zeitgenössisches Rudiment des klassischen Hellas und Parallele zum
entfremdeten Zustand Hesperiens. Die kleinasiatische jüdische Diaspora der
Antike hat vielmehr auch historische Vorläufer für den pseudo-messianischen
91 Die Definition der prototypischen millenaristischen Bewegung von Norman Cohn liest
sich fast wie ein Steckbrief der Nemesis-Organisation im Hyperion (vgl. Cohn 1988: 11).
Die Forschung war bisher vor allem auf das Gedankengut der Illuminaten im Umkreis
Hölderlins, aber auch Schillers fixiert (vgl. Graßl 1971; Reinalter 1983; Schings 1996).