Page 105 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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II. Ruach, Logos, Geist


       Um die Rezeptionsbrücken für Hölderlins rejudaisierende Tendenz zu ergründen,
       möchte  ich  nun  jüdischen,  griechischen  und  christlichen  Geistbegriff
       nebeneinander  betrachten.  Philo  von  Alexandrien  (um  20/15  v.  -  um  45/50  n.
       Chr.)  kommt  dabei  eine  Schlüsselstellung  zu.  Seine  Logosspekulation  steht
       nämlich  im  Schnittpunkt  von  alttestamentlicher  Ruach,  stoischem  Logos  und
       Paulinischem Geistbegriff.
           Die ruach,  der „Geist Gottes“  des Alten Testaments ist der eigentliche Quell­
       grund  der  phiionischen  Messiasspekulation  und  der  jüdischen  Weisheitslehre:
       jener  „Geist  Gottes“,  der  bei  der  Schöpfung  über  den  Wassern  schwebte
       (1 Mo  1,2).   Die   genetische  Verbindung  von   Schöpfungsmoment   und
       Messiasgeburt (Präexistenzlehre) habe ich schon erwähnt: Der Messias entsteht aus
       derselben  Vermittlungsinstanz,  die  auch  die  ganze  Schöpfung  hervorbringt.

       Neben  die  Geistinstanz  (hebr.  ruach, griech.  Ttveüpa)  tritt  dabei  die  sprachliche
       Vermittlungsinstanz  (hebr.  „ma’  amar“  oder  memra9S,  griech.  köyoq).  Philo  und
       die Weisheitslehre  zielen  dabei  stets  auf semitische Begriffe von  Geist  und Wort,
       auch wenn sie griechisch „Pneuma“ und „Logos“ schreiben.
           Zwei  Begriffspaare  sind  also  in  ihrer  hebräisch-aramäischen  und  griechisch­
       hellenistischen Sinnschicht für das Verständnis Philos wichtig:
           hebräisch-aramäisch:   griechisch-hellenistisch:   deutsch (lateinisch)


           „Ruach“                „Pneuma“               „Geist“ (spiritus)

           „Ma’amar“, „Memra“     „Logos“                „Wort“

       Unter dem Firnis  der  griechischen  Begriffe  bleibt  bei Philo  eine jüdische  Schicht
       lebendig.  Darauf hat  vor  allem  die jüdische  Religionswissenschaft  immer  wieder
       aufmerksam gemacht, so Joseph Klausner:

           [...]  der  griechische  Logos  be[e]influßte  den  phiionischen  nach  Form   und  Richtung,
           aber  den  wesentlichen  Inhalt  des  Begriffes  fand  Philo  im  ursprünglichen  Judentum
           vor.  (Klausner 1950:  186; vgl. Taubes 1991: 21)
       Um  diese  historische  Substruktur  der  Pneuma-  und  Logosbegriffe  einmal  ein­
       dringlich  zu  machen,  möchte  ich  die  Schichtungen  der  Überlieferungen  des  alt-
       und  neutestamentlichen  Geistbegriffes  veranschaulichen,  und  zwar  anhand  der
       Synopse der Übersetzungen einer markanten Jesuslogie (Lk 4,  18-19). Nach Naza­
       reth  zurückgekehrt,  beruft  sich Jesus  in  seiner  ersten  Predigt  auf  ein Jesajawort
       Os 61, la):



        95  Weitere Intermediär-Instanzen im Umfeld von „ma’amar“:  der „Spruch Gottes“  (Talmud;
           Klausner  1950:  189); die „Schechina“ oder der „Glanz“ Gottes (Klausner  1930:  264); „Bath-
           kol“ oder die „Stimme“ Gottes (ebd.  1930: 264f.).
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