Page 95 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Rejudaisierung des Christlichen? 93
In der pantheistischen Naturfrömmigkeit Hyperions hat Hölderlin diese Ver
innerlichung des Reich-Gottes-Gedankens literarisch gestaltet.86 Bewußt betont
Hölderlin Hyperions Hang zur Verinnerlichung gegen die herakleische Tatver
sessenheit Alabandas und des Nemesisbundes. Zeugnis davon gibt z. B. die
staatstheoretische Debatte Hyperions mit Alabanda und den Nemesisbrüdern
(vgl. KHA II: 31, Z. 28 - 48, Z. 16). Diese Unterscheidung von verinnerlichender
und pragmatischer Einstellung wird im hybriden Sündenfall Hyperions
dialektisch aufgehoben. Nach seinem „Fall“, der Verstrickung in Kriegsexzesse an
der Seite der Nemesis-Partisanen, erreicht Hyperion eine höhere Stufe: das
gesteigerte Bewußtsein des Gereiften (als Eremit auf Salamis). Tatwut geht über in
genügsam resignative Innerlichkeit. Hyperion beschwört diese Innerlichkeit87
mehrfach:
Was ist Verlust, wenn so der Mensch in seiner eignen Welt sich findet? In uns ist alles.
(KHA II: 23, ZZ. 31f.)
Warum sind wir ausgenommen vom schönen Kreislauf der Natur? Oder gilt er auch
für uns? / Ich wollt’ es glauben, wenn Eines nicht in uns wäre, das ungeheure Streben,
Alles zu sein, das, wie der Titan des Ätna, heraufzürnt aus den Tiefen unsers Wesens.
(KHA II: 25, ZZ. 14-19)
Gershom Scholem beschreibt die „Interiorisation“ der Gottesvorstellung als ty
pisch für die christliche Mystik. Der Gegenstand, an dem er diesen und die
folgenden Gedanken entwickelt, sind Person und Leben des Sabbatai Zwi (1626-
1676), eines palästinensischen Juden des 17. Jahrhunderts, der sich in Smyrna als
selbsternannter Messias an die Spitze einer chiliastischen Volksbewegung setzte,
der sogenannten „Sabbatianer“ (Scholem 1973; 1992).
86 Das Verständnis vom „Gott in uns“ führt bis in die feinsten Verästelungen der Paulini
schen Theologie. So sagt Paulus im sog. „Friedens“- oder „Christushymnus“ des
Kolosserbriefes über Gott, daß er in seiner ganzen Fülle, in seinem „Pieroma“, in Jesus
wohne: „Denn es gefiel sich die ganze Fülle, in ihm zu wohnen“ („öti ev aüxcö eöSöktioev
jiccv tö nVfipcopa Kaioucnaai“, Kol 1, 19, zit. n. Schmidt 1990: 99). Luther übersetzt sogar
an einer Stelle des Friedenshymnus’ (Kol 1, 16) „durch“ statt „in“, wie Schmidt betont
[ebd. 98]). Die Vorstellung vom „Innen“ ist also zentral für Paulus. Auch die erste Strophe
von Hölderlins Diotima-Ode ‘Der Abschied’ stellt (in beiden Fassungen) den
verinnerlichten Gott verbindend zwischen die Liebenden: „Trennen wollten wir uns?
wähnten es gut und klug? / Da wirs taten, warum schröckte, wie Mord, die Tat? / Ach!
wir kennen uns wenig, / Denn es waltet ein Gott in uns.“ (ebd. VV. 1-4) Die platonischen
und stoischen Deutungen des „Gott[es] in uns“ vertiefen das Verständnis der Formel,
lassen aber die pneumatische und die messianische Bedeutung im Spannungsfeld von
Interiorisation und Exteriorisation außer acht (vgl. Jochen Schmidt, KHA 1:678,
Kommentar z. St. 284, 4).
87 Man beachte hier auch Hölderlins besondere etymologische Aufladung des Wortes „innig“,
das so viel wie „einig“, „heil“, „harmonisch entgegengesetzt“ heißen kann (KHA III: 109,
ZZ. 26-29; vgl. auch Zuberbühler 1969: 73f.).