Page 98 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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96 I. Kapitel: U rsprünge
positivistische Gewalt. Damit birgt dieser Gedanke der „reinen Substanz der
Tora“ nicht nur eine Kraft der Veränderung im Blick auf die Reiche, die den
Juden feind sind (die „Hure Babylon“ etwa). Auch gegen die „Substanz“ des
eigenen Religionsgesetzes und ihrer Vertreter richtet sich diese Befreiung eines
Wesentlichen von allem Akzidentiellen. In Zeiten messianischer Hoffnungen, so
Scholem, kam es zu Spannungen zwischen den Rabbinen und dem Volk, denn es
gibt einen Zusammenhang zwischen „religiöser Innovation“ und „aktivem
Messianismus“ (Scholem 1992: 32).
Die utopische Messiasvorstellung trägt also Züge einer verinnerlichenden
Mystik - das kommende Reich ist in der Vorstellung der Menschen
vorweggenommen. Zugleich hegt sie den Glauben an eine Befreiungstat, die nur
innerweltlich vollzieht, was göttlich (also außerweltlich) verheißen ist.
Den Begriff der Exteriorisation definiert Scholem dabei nicht als symme
trisches, sondern als asymmetrisches Komplement zur Verinnerlichung.
„Veräußerlichung“ ist nicht auf die messianischen Aufrührer bezogen, die das Be
stehende politisch revolutionieren, indem sie ihren messianischen Geist gleichsam
nach „außen“, das heißt in die politische Wirklichkeit tragen. Das Reich Gottes
wird vielmehr exteriorisiert, also als radikales Umbruchsmoment gedacht, das
letztlich außerhalb des menschlichen Handelns begründet ist. Innerweltliches, po
litisches Handeln bewirkt aber einen Fortschritt, wodurch die absolute
Exteriorisation des Himmelreichs sich relativiert. Systematisch korrekt müßten
die chiliastischen und aktionistischen Bewegungen deshalb als Messianismen rela
tiver Exteriorisation eingestuft werden, denn sie favorisieren ein Moment des
Handelns im messianischen Geist.
Diese relative Exteriorisation soll anhand eines Gedichts veranschaulicht
werden. In der Feiertagshymne entwirft Hölderlin das Erlösungsmodell in diesem
relativen Sinne:
Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,
Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand
Zu fassen und dem Volk ins Lied
Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.
(‘Wie wenn am Feiertage...’, VV. 56-60)
Der kairos des besungenen „Feiertages“ (V. 1) offenbart sich als Ineinander von
innerweltlicher Tat (die Dichter müssen das Feld bereiten, die „himmlische Gabe“
[V. 60] verhüllt weiterreichen) und apokalyptischer Naturerschütterung
(„Gewitter“, „Blitz“, „Donner“, VV. 56; 3; 4). Das „heilige Chaos“ (V. 25) der Na
turgewalten verkörpert das exteriorisierte (überweltliche, meta-physische)
Weitende; die Taten und die Sendung des Dichters relativieren diese Apokalyptik,
indem sie dem Ende innerweltlich den Boden bereiten: durch Philosophie, Kunst
und Erziehung.
Das rabbinische Judentum kennt dagegen die absolute Exteriorisation, wenn
es die Tage des Messias außerhalb des menschlichen Wirkens ansiedelt und jegliche