Page 103 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Rejudaisierung des Christlichen? 101
Aufsatz ein breites Spektrum der Einflüsse, die auf Hölderlins messianische Ideen
Einfluß nahmen: und zwar von den säkularen Rändern (Hemsterhuis, Rousseau,
Kant) bis in die Herzstücke mystischer Überlieferung (Apokalypse des Joachim
von Fiore); selbst Pietismus, Mystik und Gnosis hat Rosteutscher im Blick (vgl.
Rosteutscher 1966: 15-74).
Hölderlins wachsende Unzufriedenheit mit der neutestamentlichen Theo
logie und die Möglichkeit einer Rejudaisierung in der messianischen Frage
berücksichtigt Rosteutscher nicht. Zwar unterscheidet er verschiedene Messianis
mus-Phasen der Werkstufen. Doch eine Verschiebung von Hölderlins spätem
Messianismus von der pneumatisch christlichen Auffassung zu einer revolutio
nären Eschatologie im judaisierenden Sinne diskutiert er nicht. Die gesamte
Qumran-Kontroverse in jüdischer Religionsgeschichte und christlicher Theologie,
die mit der Edierung und Auswertung der Schriftrollen vom Toten Meer in Gang
kam, vollzog sich erst in den 60er und 70er Jahren. Rosteutscher sieht im Jahre
1966 zwar die Verknüpfung von Hölderlins messianischen Ideen mit der Proble
matik des jüdischen und christlichen Messianismus (auch die Brisanz des
Qumranfundes an der Schnittstelle zwischen Jerusalemer Judentum, mes
sianischen Sekten und Frühchristentum). Aber Rosteutscher arbeitet diese
Parallele zwischen dem jüdischen Denken und dem Messianismus Hölderlins
nicht auf:
Betrachtet man Entwicklung und Inhalt des Hölderlinschen Messianismus, besonders
wie er sich um 1800 darstellt [...], so sieht man, daß seine dichterischen
Verkündigungen sich dem uralten Grundschema messianischer Verkündigung
zuordnen lassen, wie es bereits den jüngst entdeckten Schriften der Essenefn] [sic]
zugrundeliegt. (Rosteutscher 1966: 73)
Jochen Schmidt dagegen diskutiert den modischen Chiliasmus, den Hölderlin in
der ‘Friedensfeier’ zelebriert und der wohl eindeutig der besonderen schwäbischen
Ausprägung des Pietismus verpflichtet ist (vgl. Schmidt: 1990: 86-100). Chiliasmus
und Millenarismus, wie sie Johann Albrecht Bengel (1687-1752) und Friedrich
Christoph Oetinger (1702-1782) in ihren pietistischen Traktaten postulierten, sind
Elemente, die die Kluft zwischen streng dogmatischer Transzendenz und
utopischer Sehnsucht nach einer diesseitigen Erlösung überbrücken helfen: Steine
in der Furt, die Hölderlin durchschreitet, indem er die Ufer der christlichen
Theologie und Dogmatik verläßt. Zu diesen Steinen, die Hölderlin im Übergang
vom rein christlichen Denken zu seinem späten „Synkretismus“ (KHA III: 376,
Z. 3) beschreitet, gehört neben den pantheistischen, stoischen, christlich
pneumatischen Komponenten auch ein jüdisches Element, eine rejudaisierende
Tendenz. Im Blick auf die messianische Frage trägt dieses judaisierende Sediment
alle synkretistischen und universaltheologischen Überlagerungen.