Page 102 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 102

100                      I.  Kapitel:  U rsprünge


          Nemesisbund  hervorgebracht.92  Die  messianischen  Ideen,  die  Hölderlin  im

          Hyperion verarbeitet,  dürfen  nicht  nur  synkretistisch als  Mythisierung  und


          Poetisierung  christlicher  Strömungen,  sondern  müssen  so  auch  filiatorisch als
          Ausdruck  eines  mystisch-messianischen  Kontinuums  zwischen  dem  Judentum
          und   seinem   christlichen   Abkömmling   verstanden   werden.93   Diese
          Restitutionsversuche  der  chiliastischen  Bewegungen,  ihr  gleichsam  judaisierendes
          oder  besser:  rejudaisierend.es Bestreben,  sind  als  Anstrengungen  zu  verstehen,  ein

          Verlorenes,  Verdrängtes,  Entfremdetes  wiederzugew'innen -  eine  Denkweise,  die,

          rein  idealtypisch  betrachtet,  der  kompensatorischen  Disposition  der  frühroman­
          tischen Intellektuellen des  18. Jahrhunderts entspricht.94

              Im  Blick  auf  die  Entwicklung  des  messianischen Elements  in  Hölderlins
          Utopiedenken  hat  die  Forschung  eine  Fülle  philosophischer,  theologischer  und
          literarischer Einflüsse herausgearbeitetet. Joachim Rosteutscher zeichnet in seinem



           92  Sicherlich  hatte  Hölderlin  auch  reale  Geheimbünde  im  Blick,  als  er  die  Nemesisbrüder
              porträtierte.  Eine  freimaurerische  Geheimgesellschaft des  18. Jahrhunderts führte sabbatia-
              nisches  Gedankengut  sogar unmittelbar in  ihrem Programm.  Ausgerechnet Johannes  der
              Evangelist,  diese  Zentralfigur  in  Hölderlins  spätem  Denken,  war  Leitfigur  des  Wiener
              Ordens  der  „Brüder  St. Johannes  dem  Evangelisten  aus  Asien  in  Europa“,  auch  genannt
              „Orden  der  Asiatischen  Brüder“  (Katz  in  Reinalter  1983:  240f.).  Die  Gebrüder  Hans
              Heinrich und Hans Carl  von Ecker und Eckhoffen hatten den Orden  1780/81  gegründet.
              Zum einen  war die  Gründung Ausdruck einer Integrationsbestrebung  assimilierter Juden
              und  bürgerlicher  Nichtjuden.  Im  Zeichen  einer  „johanneischen“  Versöhnung  von
              Judentum  und  Christentum  setzte  man  sich  zum  Ziel,  ganz  dem  aufklärerischen
              Toleranzgebot  zu  leben.  Zum  anderen  sympathisierten  die  Ordensbrüder  mit  dem
              messianischen Gedankengut der messianischen Sekte Sabbatai Zwis. Die teils kabbalistisch,
              teils  Sozialrevolutionär geprägten Ideen  des Pseudo-Messias  aus  Smyrna schürten  bis  weit
              ins  18.  Jahrhundert  hinein  die  heimlichen  Herde  phantastischer  Umsturzpläne  und
              Erlösungswünsche in Europa (vgl. Katz in Reinalter 1983: 240-283).
           93  Diese  terminologische  Unterscheidung verdanke  ich  Carsten  Colpe.  Immer wieder  igno­
              riert  die  Forschung  die  Tatsache,  daß  es  sich  bei  einer  Versöhnung  von Judentum  und
              Christentum nie um einen Synkretismus, sondern nur um eine Filiation handeln kann (vgl.
              z. B. Jacob Katz in Reinalter 1983 oder Jochen Schmidt  1990).
           94  Vor diesem Hintergrund ist Schillers Polemik gegen Hölderlin geradezu hellsichtig. In ei­
              nem Epigramm, das er nicht in den Musen-Almanach für das Jahr 1797 aufnimmt, vergleicht
              er seinen Schützling  mahnend  mit  Sabbatai  Zwi  -  und  zwar unter der Überschrift:  „Der
              falsche  Messias  zu  Konstantinopel  an  H.  [=  Hölderlin]“.  Schiller  ahnt  nicht  nur  den
              „messianischen“  Charakter von Hölderlins Welt- und Dichtungsentwurf. Spöttisch mahnt
              er ihn sogar, es dem spektakulären Übertritt Zwis zum Islam gleichzutun, sich zum ästhe­
              tisch wie politisch oppurtunen Säkularglauben der „Philosophie“ zu bekehren statt weiter
              dem Erlösungsanspruch des Dichterpropheten anzuhängen  (Zwi war 1666 nach seiner Ge­
              fangennahme durch den türkischen Sultan zum Islam konvertiert.): „Als der Prophet nicht
              geriet, da ward er ein Türke  zu  Stambul; /  Freund, sei  vernünftig  wie  er, werde du  jetzt
              Philosoph.“  Schiller  ließ  dieses  Ur-Xenion  wahrscheinlich  ungedruckt,  um  Hölderlin  in
              der  heiklen  Ablösungsphase  seit  1795  nicht  noch  tiefer  zu  treffen  (zur  handschriftlichen
              Überlieferung vgl. Sattler 1981:1, 93ff. und SNA XXVIII:  170f.).
   97   98   99   100   101   102   103   104   105   106   107