Page 99 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 99

Apokalyptik versus Transitorik               97


       Verbindung  zwischen  dem  menschlichen  Handeln  und  dem  Verlauf  der  Ge­
       schichte  leugnet.  Das  Gegenteil,  die  absolute  Interiorisation, realisiert  der

       rationalistische  Fortschrittsglaube von Moses Maimonides  (1135-1204).  In diesem
       Fall mündet der jüdische Glaube in einen innerweltlichen Vernunftglauben.
           Absolute Interiorisation  und absolute Exteriorisation bilden ihr eigenes Mo­
       dell  vom  Ende  der  Dinge:  die  Rabbinen  glauben  an  die  radikale Singularität  des
       apokalyptischen Zeitbruchs; Maimonides postuliert den stillen Übergang zur uto­
       pischen  Ordnung  ohne  den  Lärm  kosmischer  Katastrophen  und  Kataklysmen:
       reine Transitorik ohne  eine  Spur von  Apokalyptik  (weshalb Scholem  diese  Den­
       krichtung auch als „anti-apokalyptisch“ bezeichnet, vgl. Scholem 1968: 57f.).
           Gerade  die  unreinen  Formen,  die  graduellen  Abstufungen  zwischen  beiden
       Polen  des  interiorisierenden  und  exteriorisierenden  Denkens,  sind  für  die  Be­
       trachtung  Hölderlins  ergiebig.  Mystizismus  und  messianischer  Aktionismus
       bilden einerseits ein Mischungsverhältnis von Exteriorisation und Interiorisation,
       das  im  messianischen  Anarchismus  politisch  explosiv  wird.  Wie  eine  Losung
       tragen  die  messianischen Anarchisten das  Reich  Gottes  „in“90 den Herzen,  ist  die
       Utopie  auch  ohne  Institution  und  rein  konspirativ  erfahrbar.  Zugleich  bleibt
       andererseits  bei  allem  Eifer  des  politischen  Kampfes  doch  ein  Restglaube  an  die
       apokalyptische  Notwendigkeit  des  Umbruchs,  für  den  man  kämpft,  das  Ver­
       trauen  auf  die  Hilfe  durch  eine  äußere  Gewalt  (z. B.  eine  Naturkatastrophe,
       manifest in „des Vater Strahl“, V. 63 oder den „Stürmen“, V. 65). Auch erhält sich
       die Hoffnung auf eine personale Macht, einen Mittler, dessen Kommen außerhalb
       des  menschlichen  Ermessens  und  Einflusses  liegt  (z. B.  ein  Engelfürst  als
       mythischer  Retter,  ein  „Wächter“  wie  bei  Daniel,  ein  „Friedefürst“  im  Sinne
       Jesajas; oder der „Retter“ und „Befreier“ Chirons).
           Es war notwendig,  Interiorisation  und Exteriorisation  als Faktoren  der Ent­
       faltung  der  messianischen  Idee  bei  Hölderlin  nachzuzeichnen.  Denn  erst  vor
       diesem Hintergrund wird die Kontur der messianisch inspirierten Anarchisten im
       „Bund  der  Nemesis“  aus  dem  Hyperion  verständlich.  In  der  Debatte  zwischen
       Hyperion und Alabanda,  der sich zu den Brüdern des Nemesisbundes zählt, ist es
       ausgerechnet  die Formel vom  „Gott in uns“,  an  der sich die  kontroversen  Stand­
       punkte  entzünden.  Die  Debatte  soll  im  einzelnen  nicht  nachvollzogen  werden






        90  Die  Präposition  „in“  und die  Raumvorstellung des  „Innen“  sind  im Hyperion signifikant.
           Das  „In(nen)“  ist  fast  so präsent wie  die Flugbilder.  Häufig drängt  sich der pneumatische
           und mystisch-messianische Kontext  geradezu auf.  So etwa, wenn Hyperion sich resigniert
           von Smyrna und seinen Bewohnern abwendet und dabei das Defizit an „Kraft und Geist“
           bemängelt.  Die  Formel  ist  eine  wichtige  Anspielung  auf Paulus.  Vor  ihrem  mythischen
           Subtext gelesen, verdichtet sich in „Kraft“ und „Geist“ der ikarisch-herakleische Kerngegen­
           satz  des  Hyperion-.  „Aber  es  war  nicht  Kraft  und  Geist  genug  darinnen.“  (KHA II: 29,
           ZZ. 35f.)
   94   95   96   97   98   99   100   101   102   103   104