Page 96 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 96
94 I. Kapitel: Ursprünge
Im Gegensatz zum chiliastischen Aktionismus der Sabbatianer beginnt die
mystische Interiorisation (die alle Erlösungserwartung in das Subjektive und
Geistige hereinnimmt) mit der Lehre des Paulus. Die paulinische Pneumalehre
markiert den Kreuzungspunkt zwischen politischer Messianik und Mystik,
zwischen „Apokalyptik“ und „Gnosis“, wie Jacob Taubes es ausdrückt:
Paulus bezeichnet genau den Ort der Wende von der christlichen Apokalyptik zur
christlichen Gnosis. Eschatologie und Mystik kreuzen sich bei Paulus. (Taubes
1991: 67 - Hervorhebung original)
Die „christliche Apokalyptik“,88 die Eschatologie, die Taubes hier anspricht, hatte
allerdings noch teil an der jüdisch inspirierten, politischen Erregung zu Beginn der
Zeitrechnung. Damit hielt der apokalyptische Strang des christlichen Denkens die
Zufuhr an politisch-tätigen Elementen aufrecht. Ungeachtet aller Vergeistigungs
schübe der Pneumatik, wodurch Johannes, Paulus und die Kirchenväter die
messianische Erwartung zu verinnerlichen trachteten, blieb dem Christentum die
Apokalyptik als Kristallisationskeim politischer Diesseitigkeit erhalten. Merk
würdigerweise entlud sich dieses aktionistische und anarchistische Potential
historisch vor allem in Sekten und „judaisierenden“ Ketzerbewegungen der christ
lichen Welt und kam nur selten im Judentum selbst politisch zum Ausbruch.
Umgekehrt hat das kabbalistische, nichtrabbinische Judentum viel mystisches
und gnostisches Gedankengut aus dem Christentum aufgegriffen und weiter
entwickelt. Diese auffällige Wechselkompensation zwischen Judentum und
Christentum beschreibt Gershom Scholem im Begriffspaar von „Interiorisation“
und „Exteriorisation“. Für ihn besteht darin die Spannung zwischen jüdisch
chiliastischem und christlich verinnerlichtem Messianismus:
Je mehr der christliche Messianismus [...] als ,diese wundersame Gewißheit reiner
Innerlichkeit“ [Karl Bornhausen] auftrat, desto stärker mußte sich das Ungenügen
hieran auf die jüdische Vision zurückverwiesen finden. Immer wieder bezieht denn
auch solch chiliastischer und revolutionärer Messianismus, wie er etwa bei den
Taboriten, den Wiedertäufern oder dem radikalen Flügel der Puritaner auftaucht,
seine Inspiration entscheidend vom Alten Testament und nicht aus christlichen Quel
len. [...] Im jüdischen Bereich, aus dem er doch entstammt, bleibt dieser Aktivismus,
gerade im Bewußtsein der radikalen Differenz zwischen der unerlösten Welt der
Historie und der der messianischen Erlösung [...] singulär und seltsam kraftlos. Dieser
Linie, auf der das Judentum dem Christentum immer wieder den politischen und chi
liastischen Messianismus abgegeben hat, steht die andere gegenüber, auf der das
Christentum ans Judentum seinerseits die Tendenz vererbt oder doch in ihm erregt
hat, einen mystischen Aspekt der Interiorisation der messianischen Idee zu entdecken.
(Scholem 1968: 35f.)
88 Zur „christlichen Apokalyptik“ gehören neben der Johannes-Apokalypse auch andere apo
kryphe Texte der frühen Christen, wie z. B. die Petrus-Apokalypse oder der „Hermas“, ein
lateinisch verfaßtes Corpus, das ca. 140 n. Chr. verfaßt wurde, so genannt nach seinem Ti
tel Pastor Hermae.